
Zen 禅 und japanische Ästhetik in der Naturfotografie

Inhaltsverzeichnis
- Zen – Gedanken zum Einstieg
- Fēng Shuǐ 風水 in China
- Shintō 神道 in Japan
- 佗寂 Wabi-Sabi — Die Schönheit in der Unvollkommenheit
- 粋 Iki — Eine Brücke zwischen Menschlichkeit und Natur
- 雅 Miyabi — Die Kunst der eleganten Andeutung und die Schönheit des Vergänglichen
- 渋い Shibui – Die Kunst der stillen Eleganz in der Naturfotografie
- 幽玄 Yūgen — Vom Mystischen, das nicht leicht ausgedrückt werden kann
- 序破急 Jo-ha-kyū — Der fließende Rhythmus von Anfang, Wandel und Ende
- 藝道 Geidō — Die Kunst der Achtsamkeit in Fotografie und Teezeremonie
- 円相 Ensō – Der große Kreis von allem
- Fazit

Zen – Gedanken zum Einstieg
Stell dir vor, du stehst vor einer Leinwand – dein Bild ist noch nicht entstanden, doch die Möglichkeiten sind schier endlos. Zen in der Fotografie gleicht diesem leeren Raum: Es ist kein festgelegter Weg, sondern ein Spiel aus Andeutung, Stille und Erkenntnis.
Ich möchte dich einladen, mit mir in die Welt der japanischen Ästhetik einzutauchen – aber nicht, um dir den Weg zur Erleuchtung zu weisen. Meine Gedanken sind keine Geheimnisse uralter Meister, sondern ein Versuch, praktische Ansätze aus dieser faszinierenden Philosophie in unser kreatives Schaffen zu übersetzen.
Ich werde dir keine fertige Formel geben, wie du Zen „einfangen“ kannst, und ich behaupte nicht, dass deine Bilder danach die Essenz von Zen verkörpern werden. Aber was ich dir anbieten kann, ist ein neuer Blickwinkel – ein Werkzeug, um deine Kompositionen mit frischen Augen zu betrachten, inspiriert von der subtilen Schönheit der japanischen Ästhetik.

Was ist ein typisches Zen Bild aus der Sicht eines Europäers? Wenn ich es beschreiben müsste, dann liegt es in der Einfachheit des Bildes selbst. Ich habe ein Bild eines verwitterten Blattes der Silber-Pappel ausgewählt. Mich hat es damals sehr angesprochen, weil es für den Herbst untypisch silber-weiß ist. Die Fotografie vermittelt zwei Elemente von Mono-no-aware: dass im bevorstehenden Verfall der Blätter und im trüben Tageslicht tiefe Schönheit liegt. Das Hauptmotiv hat auch etwas von der Einfachheit von Shibui, da sie raffiniert, aber einfach sind, aber es gehört auch in den Bereich von Wabi-Sabi, in der die Schönheit im Unvollkommen und in der Vergänglichkeit liegt.
Das Schreiben über japanische Ästhetik ist für mich eine besondere Herausforderung. Sie lässt sich nicht in wenigen Worten erfassen, da sie tief in einer jahrhundertealten Kultur verwurzelt ist, die sich von der westlichen Denkweise grundlegend unterscheidet. Selbst eine einfache Annäherung erfordert ein gewisses Verständnis und eine behutsame Einführung. Für jemanden wie mich, der aus einer eher westlichen Perspektive kommt, fühlt es sich oft an wie ein Balanceakt zwischen zwei Welten: zwischen der klaren Struktur und feinen Nuancierung der japanischen Ästhetik und der eigenen ungeordneten, manchmal ungestümen Herangehensweise, die wenig mit der Ruhe und Tiefe des Zen gemein hat.
Die europäische Kultur zeichnet sich durch eine gewisse Flexibilität und Offenheit aus. Strenge Regeln oder feste Strukturen spielen selten eine dominante Rolle, und wenn sie entstehen, werden sie häufig hinterfragt oder neu interpretiert. Dieser ständige Wandel ist typisch für unsere Denkweise, bei der Innovation und Veränderung oft wichtiger sind als das Bewahren von Traditionen. Dadurch entstehen immer wieder neue Ansätze, die jedoch manchmal so schnell überarbeitet werden, dass sie sich kaum entfalten können, bevor sie durch etwas Neues ersetzt werden.
In der heutigen schnelllebigen Zeit bleibt wenig Raum für Ruhe und Besinnung. Vieles wird zu kurzfristigen Trends, die in den sozialen Medien schneller verschwinden, als sie aufkommen. Dieser flüchtige Umgang prägt nahezu alle Bereiche unseres Lebens: von der Fotografie über Mode und Politik bis hin zu so alltäglichen Dingen wie Kaffee. Alles, was unsere kulturelle und ästhetische Identität ausmacht, scheint einem ständigen und beschleunigten Wandel zu unterliegen.

Diese ständige Veränderung hat im Westen eine lange Geschichte – so lange, dass der Wandel immer schneller zu werden scheint. Wir befinden uns möglicherweise an einem Punkt, an dem alles gleichzeitig existiert: Ideen und Konzepte mischen sich, ohne feste Grenzen. Die schlichte Schönheit einer Feder am Strand steht im Kontrast zur düsteren Ästhetik eines verwitterten Blattes. In der westlichen Denkweise fällt es oft schwer, solche Gegensätze harmonisch zu verbinden. In anderen Kulturen hingegen wird das Gleichgewicht zwischen scheinbaren Widersprüchen als etwas Natürliches betrachtet.
Je weiter man nach Osten blickt, desto deutlicher wird, wie tief kulturelle und ästhetische Traditionen in der Gesellschaft verwurzelt sind. Diese Traditionen sind keine starren Regeln, sondern leben in vielen Formen nebeneinander. Manche sind eng mit religiösen Überzeugungen verbunden, andere unabhängig davon, und einige überschreiten sogar die Grenzen verschiedener Glaubensrichtungen. Was sie vereint, ist ihre über Jahrhunderte gewachsene Beständigkeit, die ihnen Tiefe und Bedeutung verleiht.
Ein möglicher Grund für die Langlebigkeit dieser Traditionen liegt in ihrem praktischen Bezug zum Alltag. Sie basieren auf einem tief verwurzelten Verständnis für das Leben und den gesunden Menschenverstand, der über Generationen weitergegeben wurde.
Fēng Shuǐ 風水 in China
Auf meinem gedanklichen Weg nach Japan werde ich kurz in China Halt machen, um ein Beispiel für die praktische Seite dieser ästhetischen Prinzipien anhand des bekannteren Feng Shui zu geben. Letztlich geht es bei Feng Shui um die praktische Anwendung von Harmonie und Ordnung: Möchtest du im Luftzug sitzen, in einem chaotischen Raum arbeiten oder mit der Sonne in den Augen und schlechten Gerüchen umgeben sein? Zugegeben, das letzte Beispiel könnte die praktische Seite durch romantische Vorstellungen etwas überhöht haben. Aber es zeigt, dass diese Prinzipien, wie auch immer sie vermittelt werden, einen klaren, durchdachten Weg verfolgen, der einen praktischen Zweck erfüllt.
Feng Shui mag in der westlichen Welt bekannt sein, doch bleibt es hier oft eine abstrakte Vorstellung, die selten wirklich gelebt wird. Es ist eine Art des Denkens, die eine direkte Verbindung zur praktischen Welt und der eigenen Lebensumgebung sucht – eine Verbindung, die bei uns vielfach nur noch in theoretischen Diskussionen existiert, ohne im Alltag eine Bedeutung zu erlangen.
* Fēng Shuǐ 風水 daoistische Harmonielehre aus China und heißt Wind und Wasser
Shintō 神道 in Japan
Wenn wir uns weiter nach Japan bewegen, treffen wir auf die tiefgründigen Shinto- und buddhistischen Konzepte, die die ästhetische Praxis und die Kunst dort prägen. Eine pauschale, westliche Betrachtung des Shinto-Buddhismus könnte sagen, dass er davon ausgeht, dass alles in der Natur existiert und dass jede Erscheinung sich in einem ständigen Zustand der Wandlung befindet – zwischen ihrem Potenzial, ihrer Erfüllung und ihrer Rückkehr zu jenem Potenzial in der Leere. Diese Vorstellung erinnert an die Bewegung einer Welle oder den Kreis eines unendlichen Zyklus, der kein Ende kennt.
* Shintō 神道 heißt Weg der Götter
Dieser Fluss – diese konstante Veränderung und Rückkehr zur Ursprünglichkeit – ist eine der zentralen Ideen, die sich durch die ästhetischen Prinzipien Japans ziehen. Schönheit, Anmut und Geschmack sind nicht nur abstrakte Konzepte, sondern vielmehr tief in den natürlichen Rhythmen und Prozessen der Welt verwurzelt. Sie drücken sich in der Einfachheit und Harmonie aus, die in vielen Aspekten des Lebens zu finden sind – sei es in der Architektur, in der Kunst oder in der Naturfotografie.
So wie im Feng Shui das Ausbalancieren von Raum und Energie eine praktische Bedeutung hat, finden sich in der japanischen Ästhetik ähnliche Prinzipien, die uns helfen, das Bild, das wir erschaffen möchten, mit der Tiefe und Ruhe der Natur zu verbinden. Diese Prinzipien sind nicht nur in Kunstwerken zu finden, sondern durchdringen das Leben selbst, indem sie das natürliche Gleichgewicht und die Zeitlosigkeit widerspiegeln, die oft schwer in westliche Kategorien zu fassen sind.
Im Gegensatz zu vielen westlichen Vorstellungen von Ästhetik, die meist an kurzfristige Trends geknüpft sind und in aufstrebenden Künstlerbewegungen (etwa bei den Surrealisten, Kubisten oder Modernisten) nur kurzzeitig feste Formen annehmen, bietet die japanische Ästhetik umfassende Ideale. Diese können sowohl auf komplexe, spirituelle Themen angewendet werden als auch auf einfachere Bereiche, die eher vom aktuellen Zeitgeist geprägt sind.
Wie bereits erwähnt, ist die japanische Ästhetik kein starres Regelwerk. Vielmehr umfasst sie eine Reihe von Leitlinien, die sich auf das Leben und die Kunst gleichermaßen beziehen. Manche dieser Richtlinien lassen sich klar mit dem verbinden, was wir im Westen unter Zen verstehen, während andere sich eher als künstlerische Prinzipien begreifen lassen, die sich etwa in einem Bild umsetzen lassen. In den folgenden Abschnitten werde ich die wichtigsten dieser ästhetischen Ideen vorstellen – von denen, die leicht in die Praxis zu übertragen sind.
佗寂 Wabi-Sabi — Die Schönheit in der Unvollkommenheit

Gefrorene Schneebeeren in der Wintersonne – eine Fotografie, die gängige Vorstellungen von Zen in sich trägt und zugleich mehrere Facetten von Wabi-Sabi offenbart. Die natürliche Ordnung wird bewusst umgangen, sodass eine leichte Asymmetrie (Fukinsei) entsteht, die den Blick auf das Wesentliche lenkt. Die Erzählung vom winterlichen Verfall (Kanso) bleibt nur flüchtig angedeutet, ohne sich ganz zu entfalten, und nichts wirkt inszeniert oder manipuliert, was die natürliche Schlichtheit (Shizen) in den Vordergrund rückt. In der klaren Wintersonne entfaltet sich eine fast greifbare Stille (Seijaku), die dem Betrachter Raum zum Verweilen gibt. Doch erst mit der feinen Andeutung einer tieferen Bedeutung (Yūgen) entfaltet das Bild seine stille Poesie und hinterlässt eine Ahnung von etwas, das sich nur schwer in Worte fassen lässt.
Wabi-Sabi – für mich die feinste und subtilste Essenz der japanischen Ästhetik. Ihr Zauber liegt in der Kunst, die Prinzipien mit Zartheit anzuwenden, ohne ein einzelnes Element übermäßig hervorzuheben und damit die Harmonie zu stören. Es ist die Wahrheit der Natur selbst, die in ihrer schlichten Echtheit spürbar wird.

Ein Bild der Welle im Meer veranschaulicht diese Schönheit eindrucksvoll. Nicht der Gipfel der Welle ist ihr schönster Moment, sondern all die anderen Zustände – wenn sie sich aufbaut, in sich zusammenfällt oder leise ausläuft. Denn Wabi-Sabi richtet den Blick auf das bewusste Erleben des Alltags und die Erkenntnis, dass wahre Schönheit nicht allein im Moment des Höhepunkts liegt, sondern in jedem anderen Zustand ihrer Entstehung oder ihres Vergehens. Es ist der feinsinnige Geist, der diese verborgenen, oft unscheinbaren Momente der Schönheit zu schätzen weiß.
In der Welle spiegeln sich die Prinzipien von Wabi-Sabi, die auch in der Komposition wirken:
Datsuzoku (脱俗) – Die Freiheit, Regeln zu durchbrechen, das Ungeordnete und Unregelmäßige zuzulassen. Es widerspricht den starren Vorstellungen, die oft mit Japan assoziiert werden.
Fukinsei (不均整) – Die Schönheit der Asymmetrie, des Ungleichgewichts.
Kanso (簡素) – Die Einfachheit, die das Wesentliche offenbart.
Koko (古拙) – Die Rohheit und Ursprünglichkeit, das Unverfälschte.
Shizen (自然) – Die Natürlichkeit, die nicht vorgibt, etwas anderes zu sein.
Seijaku (静寂) – Die Stille und Ruhe, die in ihrer tiefen Gelassenheit Frieden schenkt.
Yūgen (幽玄) – Die Schönheit der Andeutung, die im Ungesagten und Verborgenen liegt.
粋 Iki — Eine Brücke zwischen Menschlichkeit und Natur

Iki ist eine Ästhetik, die vor allem die menschliche Wertschätzung für das Reine, Unverfälschte und die Schönheit der menschlichen Form beschreibt. Anders als Wabi-Sabi richtet sich Iki nicht auf die Natur selbst, sondern auf das, was durch den Menschen in Beziehung zur Natur steht. In der Naturfotografie mag es auf den ersten Blick wenig Anwendung finden, es sei denn, die menschliche Form wird Teil des Bildes. In diesem Fall könnte Iki als eine Brücke dienen, die die Parallelen zwischen Natur und Menschlichkeit aufzeigt und in einen Dialog miteinander bringt.
Während Wabi-Sabi und Iki einige Gemeinsamkeiten teilen – insbesondere die Ablehnung von Perfektion –, unterscheidet sich Iki durch ein entscheidendes Element: die geschmackvolle Einbindung von Sinnlichkeit. Dort, wo die Landschaft durch den menschlichen Ausdruck bereichert wird, findet Iki seinen Platz. Es ist eine subtile, fast tänzerische Balance, die das Sinnliche nicht als vordergründig, sondern als fein angedeutet erscheinen lässt.
So kann Iki, wenn es bedacht eingesetzt wird, in der Fotografie das Verhältnis zwischen der äußeren Landschaft und der inneren Welt des Menschen gestalten. Es bringt das Unausgesprochene zum Ausdruck und lässt die Betrachter die Schönheit von Form und Empfindung in einem neuen Licht sehen.
雅 Miyabi — Die Kunst der eleganten Andeutung und die Schönheit des Vergänglichen

Gibt es ein stärkeres Klischee, als Blumen zu fotografieren, wenn Europäer versuchen, Zen in ihre Werke einzubinden? Dieses Bild stammt aus einer Serie, die stark von den Prinzipien des Yūgen und Miyabi inspiriert ist. Vor einigen Jahren suchte ich nach einer Trauerkarte und stieß dabei auf eine überwältigende Auswahl an Blumenmotiven (in Südostasien wird die weiße Chrysantheme aus Trauerblume verwendet, während es bei uns die weißen Lilien sind) – keines davon transportierte die Emotionen, die ich ausdrücken wollte. Das brachte mich auf die Idee, es selbst zu versuchen. Eine zutiefst erfüllende Aufgabe für mein inneres Ich.
Wenn Du an das historische, hochrituelle und kulturelle Japan denkst, dann ist es wohl diese Ästhetik, die vor Deinem inneren Auge Gestalt annimmt. Und doch ist sie im modernen Japan längst nicht mehr so präsent wie frühere Ästhetiken. In meiner Einleitung habe ich angedeutet, dass manche Ästhetiken, wie diese, nie wirklich in der westlichen Kultur Fuß fassen konnten – vielleicht aufgrund kulturellen Missbrauchs oder falschen Verständnisses. Dasselbe ließe sich auch für Miyabi sagen.
Miyabi war einst der Inbegriff höfischer Verfeinerung, ein Streben danach, jede Form von Grobheit auszuschließen – sei es in der Gestalt, in der Sprache oder in Metaphern. Doch dieses Ideal wurde bald zum Privileg der Reichen, die den Luxus eines solchen Lebensstils überhaupt erst pflegen konnten. So entstand die Überzeugung, dass nur die oberen Gesellschaftsschichten fähig seien, die subtile Schönheit von Miyabi wirklich zu begreifen.

Und doch birgt Miyabi ein Prinzip, das weit über diesen elitären Ansatz hinausweist: das Mono-no-aware. Es ist die tiefe Wertschätzung der Schönheit in all ihren Phasen – vom Entstehen über das Blühen bis hin zum Vergehen. In dieser Einsicht liegt eine stille, bittersüße Melancholie, die keine endgültige Lösung sucht, sondern im Moment verweilt.
Vielleicht findest Du eine Parallele in der Naturfotografie: Ein Bild, das nicht alles verrät, das etwas Wesentliches ausspart, lässt Raum für Vorstellung und Sehnsucht. Ein solcher Ausschnitt – sei es ein verschwommener Rand, ein verborgener Teil des Motivs oder die zarte Unschärfe einer Blüte – erzählt mehr durch das, was nicht sichtbar ist, als durch das Offensichtliche. Und genau darin liegt eine unendliche, flüchtige Schönheit.
渋い Shibui – Die Kunst der stillen Eleganz in der Naturfotografie

Wenn Du durch alte historische Städte und Dörfer wanderst, offenbart sich eine stille, oft übersehene Schönheit: die schlichte Eleganz historischer Holzkonstruktionen, deren Zweck sich dem Betrachter vielleicht nicht sofort erschließt. Diese Ästhetik schätzt die unscheinbare, unaufdringliche Schönheit, die tief in jeder Kultur verwurzelt ist. Ihre Subtilität lädt dazu ein, sie immer wieder neu zu betrachten und jedes Mal etwas Neues zu entdecken. Denn einfache, feine Details und Formen lassen Raum für Interpretationen, während übermäßig detaillierte Strukturen den Betrachter zu eindeutigen Schlussfolgerungen drängen.
Wo Details vorhanden sind, fügen sie sich harmonisch in die Gesamtform ein, ohne sich aufzudrängen. Shibui zeigt sich in der Patina eines gealterten Metalls, der feinen Textur eines Stoffes oder den Linien eines gepflügten Feldes. Auf diese Weise kann etwas, das der Shibui-Ästhetik entspricht, auch Elemente von Wabi-Sabi enthalten. Doch nicht alles, was Wabi-Sabi ausmacht, passt zu Shibui – etwa aufwendig graviertes Metall, reich bestickte Stoffe oder kunstvoll gestaltete Landschaften. Diese wären zu gekünstelt, um der schlichten Zurückhaltung von Shibui zu genügen.

In der Naturfotografie kann Shibui durch die Betonung von Einfachheit, Natürlichkeit und Zurückhaltung dargestellt werden. Statt nach spektakulären, dramatischen Motiven zu suchen, richtet sich der Blick auf unscheinbare Details, die oft übersehen werden: das Spiel von Licht und Schatten auf einer Baumrinde, die zarte Textur von Moos oder die feinen Linien eines vom Wind gezeichneten Sandes.
Wichtig ist, dass die Darstellung nicht zu inszeniert oder künstlich wirkt. Ein übermäßiger Einsatz von Filtern, eine unnatürliche Farbintensität oder eine zu starke Nachbearbeitung nehmen dem Bild die schlichte Eleganz, die Shibui ausmacht. Stattdessen sollte die Fotografie den natürlichen Charakter der Szene bewahren und eine stille, unaufdringliche Schönheit vermitteln.
Die Kunst liegt darin, das Auge auf das Wesentliche zu lenken, ohne den Betrachter zu überfordern. Eine minimalistische Komposition, die Raum für Interpretation lässt, ist dabei essenziell. Der Fokus auf authentische, ungeschönte Momente – sei es das sanfte Vergehen eines Blattes oder das matte Schimmern von Tau im Morgenlicht – kann die Prinzipien von Shibui in der Naturfotografie lebendig werden lassen.
Durch diese Herangehensweise lädt Shibui den Betrachter ein, sich auf die leisen, oft vergänglichen Schönheiten der Natur einzulassen und sie in ihrer stillen Kraft zu erleben.
幽玄 Yūgen — Vom Mystischen, das nicht leicht ausgedrückt werden kann

Kennst du vielleicht die Fotografien von Tetsuro Sawada (1933–1998), der hochstilisierte Sonnenuntergänge schuf? Seine Arbeiten sind interessant, gerade weil Sonnenuntergänge in der Fotografie oft verpönt sind. Sie gelten als Klischee, als Motiv für Hobbyfotografen, denen man nachsagt, dass sie keine „anspruchsvolleren“ Themen beherrschen. Doch für mich liegt in Sonnenuntergängen eine tiefere Bedeutung. Sie sind für mich ein Sinnbild des Ensō, des Kreislaufs des Lebens, der mühelos in ihrer flüchtigen Schönheit zum Ausdruck kommt – und eine Lektion in der Ästhetik des Yūgen.
Yūgen beschreibt jene stille, geheimnisvolle Schönheit, die mehr andeutet, als sie zeigt. Es ist die Präsenz des Unsichtbaren, das durch seine Wirkung spürbar wird. So könnte die Essenz dieser Ästhetik darin liegen, dass die Existenz eines Wesens nicht direkt sichtbar, sondern nur durch seine Spuren erfahrbar ist – wie die Blasen an der Wasseroberfläche, die die verborgene Bewegung eines Fisches verraten.
Auch in der Fotografie kann diese Idee greifbar werden. Naturmotive dienen hier nicht nur der bloßen Abbildung, sondern als narrative Mittel, die eine tiefere Geschichte erzählen. Ein Sonnenuntergang mag auf den ersten Blick einfach nur schön sein, doch er trägt in seiner flüchtigen Pracht eine Botschaft über Vergänglichkeit und das Unsagbare, das sich in Licht und Schatten offenbart. Es geht nicht darum, das Offensichtliche zu zeigen, sondern eine Ebene des Unbekannten und Unergründlichen zu eröffnen, die den Betrachter zum Nachdenken einlädt.
序破急 Jo-ha-kyū — Der fließende Rhythmus von Anfang, Wandel und Ende

Diese Ästhetik ist von einem klar definierten rhythmischen Bewegungsmuster geprägt: Jo-ha-kyū 序破急 beschreibt einen Prozess, der langsam beginnt (Jo), sich dynamisch steigert (Ha) und schließlich abrupt endet (Kyū). Dieses Prinzip findet sich nicht nur in der japanischen Teezeremonie und der Schwertkunst Kendo, sondern wird auch auf Theater, Poesie und sogar Konzeptkunst angewandt.
Doch warum sollte dieser Geist nicht auch in der Fotografie seinen Ausdruck finden? Selbst in einem vermeintlich statischen Medium wie der Fotografie lassen sich die drei Phasen von Jo-ha-kyū einfangen – und so die Dynamik eines Augenblicks in eine visuelle Erzählung überführen.
Ein einfaches und leicht umsetzbares Beispiel wäre das Aufblühen einer Blume. Im frühen Morgenlicht beginnt die Knospe sich langsam zu öffnen (Jo). Im Laufe des Tages entfaltet sich die Blüte zunehmend, bis sie in voller Pracht steht (Ha). Schließlich, gegen Abend, beginnt die Blume ihre Blütenblätter wieder zu schließen oder sie fallen ab (Kyū).
In der Fotografie könntest Du diese drei Phasen entweder als Bildserie darstellen oder einen Moment wählen, der den Übergang zwischen den Phasen einfängt – zum Beispiel, wenn die ersten Blütenblätter sich gerade öffnen oder die letzten fallen.
Dieses Motiv ist leicht zugänglich und vermittelt dennoch die Essenz von Jo-ha-kyū: den Rhythmus von Anfang, Steigerung und Abschluss in der natürlichen Welt. Dabei geht es nicht nur um die Blume selbst, sondern auch um das Licht, den Schatten und die Stimmung des Moments, die den Ablauf verstärken und der Ästhetik Tiefe verleihen.
藝道 Geidō — Die Kunst der Achtsamkeit in Fotografie und Teezeremonie

Geidō ist eine rituelle Ästhetik, die System und Disziplin umfasst. Sie prägt viele traditionelle japanische Künste, wie die Teezeremonie, Theater, Kalligraphie, Töpferei und Blumenarrangement. Jede dieser Kunstformen folgt bestimmten Regeln und Abläufen, die nicht nur Technik, sondern auch Haltung und Achtsamkeit schulen.
Auch in der Fotografie gibt es solche Rituale. Wenn wir ein Motiv betrachten, analysieren wir es auf Licht, Komposition, Farben und Formen – ein Prozess, der mit der Disziplin von Geidō vergleichbar ist. Diese Konzentration hilft uns, alle Aspekte eines Bildes bewusst wahrzunehmen und es mit Bedacht zu gestalten, ohne hastige Entscheidungen oder vermeidbare Fehler zu machen.
Ein anschauliches Beispiel für Geidō bietet die japanische Teezeremonie. Jede Bewegung – vom Anrichten der Utensilien über das Eingießen des Wassers bis zum Servieren des Tees – ist genau festgelegt. Es geht nicht nur um die Zubereitung des Tees, sondern darum, den gesamten Prozess mit Ruhe, Achtsamkeit und Präzision auszuführen. Nichts geschieht beiläufig, jede Handlung hat Bedeutung und trägt zur Harmonie des Moments bei.
In der Fotografie lässt sich dieser Geist übernehmen, indem Du mit ähnlicher Achtsamkeit vorgehst: Du kannst Dir bewusst Zeit nehmen, um ein Motiv zu betrachten, die Lichtverhältnisse zu prüfen, den idealen Winkel zu finden und die Komposition so zu gestalten, dass sie die Essenz des Moments einfängt. So wie in der Teezeremonie jede Geste ihren Platz hat, wird auch in der Fotografie jede Entscheidung – vom Bildausschnitt bis zur Wahl der Belichtung – zu einem Teil des kreativen Prozesses.
Manchmal erinnert mich dieser Ansatz an die Praxis der Kalligraphie (ich habe Kurse dazu im Konfuzius Institut Leipzig besucht und gemerkt, wie unglaublich schwer diese Kunst ist):
Während in der traditionellen Hitsuzendō-Kalligraphie (Der Weg des Zen durch den Pinsel) das Ziel die Vereinigung mit der höchsten Realität ist, geht es in der modernen Kalligraphie oft um das Schaffen eines wohlproportionierten, ästhetisch ansprechenden Ergebnisses.
Ähnlich erlebe ich es in der Fotografie: Es gibt Momente, in denen ich lange vor einer Szene verweile, sie betrachte und durchdenke, bevor ich schließlich den Auslöser drücke (oder auch nicht). Diese bewusste Auseinandersetzung mit dem Motiv ist ein wichtiger Teil der fotografischen Disziplin, die dem Geist von Geidō entspricht.
円相 Ensō – Der große Kreis von allem

Das Leben geht weiter, wie man so schön sagt, und so wie ein Herbstblatt verwelkt, aber durchhält, um die Knospe des nächsten Jahres zu schützen, setzt sich der Kreislauf des Lebens fort. Die entfernte Spiegelung des Motivs im Bokeh sorgt für Symmetrie und einen unsichtbaren Hinweis darauf, dass das Motiv in diesem Kreislauf nicht allein ist. [Das obere Apfelbaumbild im Herbst ist ein schönes Bild, wie man mithilfe des Swirley Bokeh ein Ensō verbildlichen kann. Naturfotografie natürlich anders S. 72]
Wenn wir zu meiner Wellen-Metapher zurückkehren, ist Ensō der Kreis, der die Welle beschreibt. In diesem Kreis finden wir das Absolute: Erleuchtung, Stärke, Eleganz, das Universum und die Leere – ein Zustand des Potenzials. Eine der bekanntesten Manifestationen von Ensō ist die kalligrafische Praxis von Hitsuzendō. Der Künstler zeichnet einen Kreis, der die Elemente der Ästhetik in einem oder zwei kraftvollen Pinselstrichen verkörpert. Dieser meditative Akt ist zugleich Ausdruck und Selbsterkenntnis.
Mit Ensō werden alle anderen ästhetischen Aspekte bis zu einem gewissen Grad erfasst, da sie Auswirkungen auf die Entwicklung des Praktizierenden und seiner Erleuchtung haben. Für Menschen wie mich, die als westliche Künstler von der japanischen Ästhetik inspiriert sind, bietet Ensō eine Möglichkeit, die verschiedenen Prinzipien – wie Wabi-Sabi, Miyabi, Shibui und Yūgen – zu einem umfassenden Ganzen zusammenzuführen.
Ensō erinnert uns daran, dass jeder Prozess weder einen klaren Anfang noch ein definiertes Ende hat, sondern Teil eines stetigen Flusses ist, der vor und nach dem eigentlichen Moment des Schaffens weitergeht. Der Akt des Fotografierens ist daher nicht nur die Auswahl eines Bildausschnitts oder das Erstellen eines Kunstwerks, sondern auch Ausdruck der Summe unserer Lebenserfahrungen, die uns zu diesem Moment geführt haben.
Im westlichen Denken spiegelt sich eine ähnliche Idee wider: Kunst entsteht nicht allein durch den Akt des Schaffens, sondern durch das Wissen und die Erfahrungen, die ein Künstler im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Jedes Bild ist mehr als eine Momentaufnahme – es ist das Resultat einer langen Reise, einer Verbindung aus Übung, Intuition und Einsicht.
Wie hilft all diese Mystik letztendlich bei der Fotografie? Am Ende macht sie den kreativen Prozess einfacher, indem sie uns dazu anregt, über Konzepte nachzudenken, anstatt starren Formeln zu folgen. Erfolgreiche Fotografie erfordert einen künstlerischen Geist, der neugierig ist, Konzepte erforscht und sie in Beziehung zueinander setzt, anstatt bloß bestehende Ideen zu kopieren.
Die japanische Ästhetik eröffnet neue Perspektiven. Wabi-Sabi, Miyabi, Shibui und Yūgen verbinden Ideale mit achtsamer Bildgestaltung und verleihen Fotografien eine tiefere Bedeutung. Jo-ha-kyū und Geidō geben uns rituelle Strukturen, die dem künstlerischen Prozess Form und Tiefe verleihen. Diese Prinzipien sind keine starren Regeln, sondern Werkzeuge, um die Schönheit des Moments zu erkunden – sowohl in der Schöpfung selbst als auch im Denken, das ihr zugrunde liegt.
Ensō verdeutlicht, wie jedes Bild Teil des größeren Kontextes unseres Lebenswerks ist. Es ist mehr als ein Projekt, ein Ausflug oder die Aufnahme einer flüchtigen Gelegenheit – es ist Teil eines endlosen Kreislaufs, der unsere Kunst mit unserem Leben untrennbar verbindet.

Fazit
Am Ende steht nicht das perfekte Bild, sondern die stille Freude am Prozess. Vielleicht ist Zen weniger etwas, das wir in unseren Fotos festhalten, und mehr das, was zwischen den Momenten geschieht – im Nachdenken, im Sehen, im Loslassen.
Wie der Kreis des Ensō, der sich schließt und doch offen bleibt, ist auch die Fotografie eine fortwährende Bewegung, ohne Anfang und ohne Ende. Sie führt uns zurück zu uns selbst, während wir die Welt betrachten. Vielleicht ist das wahre Geschenk der japanischen Ästhetik nicht das fertige Werk, sondern die Einladung, bewusster zu leben, zu sehen und zu sein.
Also nimm deine Kamera, lass dich ein – und finde deine eigene Balance zwischen Licht und Schatten, zwischen Struktur und Leere.
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Zuletzt kommentiert
Astrid
Liebe Jana,
dieser Blog Beitrag ist super schön. Du erklärst alles mit so viel Liebe und dadurch nicht nur anschaulich sondern fühlbar. Dieser Beitrag dient sogar als Nachschlagewerk. Die Fotos sind traumhaft. Man spürt, dass du die ostasiatische Kunst selbst lebst. Und dies nicht nur in Deiner Fotografie!
Herzliche Grüße, Astrid