
Das Fremde sehen: Japan und die Illusion der Objektivität in der Fotografie
Diese Artikelserie besteht aus drei Teilen und widmet sich der tiefgehenden Wahrnehmung in der Naturfotografie. In einer Zeit, in der wir von Bildern überflutet werden, liegt die wahre Kunst des Fotografierens nicht nur im technischen Können, sondern in der bewussten Wahrnehmung der Welt um uns herum. Jeder Teil dieser Serie führt dich tiefer in die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung ein und hilft dir, deine Fotografie auf eine neue, bedeutungsvolle Weise zu erleben.
Teil 1: Sehen oder Gesehen-Werden? Fotografie zwischen Technik und Wahrnehmung
Teil 2: Mehr als nur Sehen – Die Grundlagen der Wahrnehmung
Teil 3: Das Fremde sehen: Japan und die Illusion der Objektivität in der Fotografie

Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Das Bild im Kopf – Meine Vorstellung von Japan
- Der geprägte Blick: Wie unsere visuelle Wahrnehmung kulturell geformt wird
- Die Illusion der Objektivität: Fotografie als Interpretation
- Zwischen Klischee und Realität: Welche Impulse gibt Lockemann?
- Japanische Ästhetik in der Wahrnehmung: Ma, Wabi-Sabi und Mono no Aware
- Fazit: Sehen lernen – Ein Plädoyer für bewusstes Wahrnehmen
- Kennst du meine Naturfotografiebücher?


Einleitung: Das Bild im Kopf – Meine Vorstellung von Japan
Ich war noch nie in Japan. Und doch existiert in meinem Kopf eine Vorstellung mit vielen Klischees davon. Ein Japan der Kirschblüten. Alte Schreine, kunstvolle Gärten, Menschen in harmonischer Bewegung zwischen Tradition und Moderne. Diese Bilder sind nicht aus eigener Erfahrung entstanden, sondern aus Fotografien, Filmen, Büchern – aus einer Vielzahl von Darstellungen, die über Jahre hinweg mein Bild von Japan geprägt haben. Doch wie realistisch ist dieses Bild?
Ich bemühe mich, jenseits aller Klischees eine eigene Perspektive vor allem durch japanische Originalproduktionen zu entwickeln. Hollywoods Blick auf Japan ist oft eine Inszenierung des Exotischen, während japanische Filme und Serien eine ganz andere Erzählweise haben. In meinem Blogartikel über japanische Ästhetik in Serien habe ich mich mit diesen Unterschieden auseinandergesetzt. Doch auch hier bleibt die Frage: Sehe ich Japan, oder sehe ich eine japanische Interpretation von Japan?
Gleichzeitig beobachte ich seit einiger Zeit die japanische Fotografieszene auf Instagram. Dort begegnen mir immer wieder die gleichen Motive: regennasse Straßen im Neonlicht, einsame Silhouetten im Dunst von Tokio, perfekt inszenierte Kirschblüten. Japanische Fotografen, die ihre eigenen Klischees bewusst reproduzieren und bestätigen. Es gibt sogar Lightroom-Presets, die den typischen „Japan-Look“ nachahmen – oft mit entsättigten Farben, in denen nur Blau erhalten bleibt. Diese Ästhetik fasziniert viele und sammelt Millionen von Likes. Doch mich schreckt sie eher ab. Zu oft habe ich das Gefühl, dass nicht mehr das Sehen im Vordergrund steht, sondern die Reproduktion eines Stils, der längst zur Marke geworden ist.
Bettina Lockemann stellt genau diese Frage in ihrer Dissertation:
„Das Fremde sehen. Der europäische Blick auf Japan in der künstlerischen Dokumentarfotografie“.
Sie zeigt auf, dass unsere Wahrnehmung nie neutral ist. Sie ist gefiltert durch kulturelle Prägungen, durch Erwartungen, durch das, was wir bereits gesehen haben. Wir nehmen nicht einfach nur wahr, sondern sehen durch eine Linse, die aus Erfahrung, Geschichte und visuellen Konventionen besteht. Das betrifft nicht nur die Art und Weise, wie wir eine fremde Kultur betrachten, sondern auch, wie wir sie fotografisch festhalten.
Als Naturfotografin bin ich mit diesem Phänomen vertraut. Auch in der Natur gibt es Bilder, die sich in unser Bewusstsein eingebrannt haben: der perfekte Sonnenaufgang, der dramatische Himmel, der einzeln stehende Baum im Nebel. Wir suchen nach diesen Bildern, weil sie uns vertraut erscheinen. Doch genau das ist der Punkt, an dem Fotografie interessant wird – wenn wir über die gewohnten Sehgewohnheiten hinausgehen.
In diesem Artikel möchte ich Lockemanns Erkenntnisse aufgreifen, um über Wahrnehmung in der Fotografie nachzudenken. Wie werden Bilder von Japan in Europa geformt? Warum wiederholen sich bestimmte Motive? Und wie können wir uns von vorgefertigten Erwartungen lösen, um das Fremde tatsächlich zu sehen?

Der geprägte Blick: Wie unsere visuelle Wahrnehmung kulturell geformt wird
Unsere Wahrnehmung ist kein neutraler Prozess. Sie ist geprägt durch unsere kulturelle Herkunft, unsere Erfahrungen und die Bilder, die uns bereits begegnet sind. Bettina Lockemann beschreibt, dass Wahrnehmung nicht objektiv, sondern immer kontextabhängig ist und von kulturellen Prägungen bestimmt wird. Das bedeutet, dass wir das Fremde oft nicht so sehen, wie es ist, sondern wie es uns durch mediale und kulturelle Kontexte vermittelt wurde.
Besonders in der Fotografie zeigt sich dieser Effekt deutlich. Lockemann verweist darauf, dass sich über Jahrzehnte hinweg bestimmte Bildmuster wiederholen und somit das kulturelle Wissen über ein Land in visuelle Stereotype (S. 33f) übersetzt wird . Dieses Phänomen nennt sie den „geprägten Blick“. Fotografen orientieren sich oft an bereits bestehenden Bildern und Repräsentationen, was dazu führt, dass bestimmte Motive immer wieder aufgegriffen werden, während andere Aspekte einer Kultur unbeachtet bleiben.
Diese Art der visuellen Prägung betrifft nicht nur den Blick auf ferne Länder wie Japan, sondern auch unsere eigene Umgebung. In Deutschland gibt es ebenso ikonische Motive, die immer wieder reproduziert werden: Schloss Neuschwanstein im Winter, der Sonnenaufgang über dem Nebelmeer an der Bastei in der Sächsischen Schweiz, das goldene Licht über dem Eibsee. Diese Bilder sind allgegenwärtig und definieren, was als „sehenswert“ gilt. Besonders in sozialen Medien wie Instagram verstärken sich diese Muster, weil sie immer wieder geklickt, geliked und geteilt werden. Das bedeutet aber auch, dass viele alternative Perspektiven desselben Ortes in den Hintergrund treten. Die weniger bekannten, stilleren Bilder haben es schwerer, sich durchzusetzen.
Lockemann zeigt, dass die Wiederholung spezifischer Motive in der Fotografie nicht nur das vorhandene Bild einer Kultur verstärkt, sondern auch alternative Sichtweisen überdeckt. Wer nach Japan reist, hat bereits ein bestimmtes Bild im Kopf – und sucht unbewusst nach Szenen, die diesem Bild entsprechen. Genauso verhält es sich mit der Naturfotografie in unseren eigenen Regionen. Der Blick ist geprägt von Erwartungen, von bekannten Kompositionen, von dem, was sich visuell bewährt hat.
Das ist auch für uns als Fotografinnen und Fotografen relevant. Wenn wir eine Landschaft, eine Stadt oder eine Kultur fotografieren, sehen wir oft nicht das, was tatsächlich vor uns liegt, sondern das, was wir zu sehen erwarten. Lockemann spricht hier von einer selektiven Wahrnehmung, die durch Sehgewohnheiten gesteuert wird. Die Herausforderung besteht darin, sich dieser Prägung bewusst zu werden und den Blick bewusst für das Unbekannte zu öffnen.
Wie können wir als Fotografen also vermeiden, immer wieder dieselben Bilder zu reproduzieren? Bettina Lockemann gibt den Hinweis, dass es hilfreich ist, sich bewusst Zeit zu nehmen, bevor man die Kamera hebt. Wer sich auf das Fremde einlässt, ohne es sofort fotografisch zu interpretieren, eröffnet sich die Möglichkeit einer neuen Wahrnehmung. Diese Herangehensweise erfordert Geduld, aber sie ermöglicht es, tiefer in eine Kultur einzutauchen und Bilder zu schaffen, die nicht nur bekannte Muster reproduzieren, sondern eine eigene, authentische Sichtweise widerspiegeln.

Die Illusion der Objektivität: Fotografie als Interpretation
Fotografie wird oft als ein Medium der Wahrheit betrachtet. Doch Lockemann zeigt, dass jede Fotografie eine Auswahl darstellt, eine bewusste Entscheidung für einen bestimmten Ausschnitt der Realität. Sie schreibt: Fotografie kann niemals objektiv sein, weil sie durch die Entscheidungen des Fotografen und die visuelle Kodierung der Betrachter beeinflusst wird.
„Die Realität, die dokumentarische Fotografie abbildet, existiert unabhängig von ihrer Aufzeichnung. Innerhalb des fotografischen Prozesses wird sie auf bloße Sichtbarkeit reduziert. Andere sinnliche Aspekte wie Materialität der Objekte, Gerüche oder Geräusche finden in der fotografischen Aufnahme keinen Niederschlag. Während aber in der Realität unendliche Wahrnehmungsmöglichkeiten gegeben sind, kann die Fotografie nur eine Sichtweise zeigen. Andererseits gilt diese Einschränkung auf den Sehsinn einigen Autoren, die einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz der Bildwissenschaft verfolgen, überhaupt als Ursprung von Bildwahrnehmung. Die Wahrnehmung trifft auf ein Wahrnehmungsobjekt, das irritiert und herausfordert, da es in einigen Aspekten unbestimmt ist (vgl. Huber 2004: 26ff.; Wiesing 2000:
48ff.) (Lockemann S. 94)„
Jeder fotografische Prozess beinhaltet eine Entscheidung: Welches Motiv wähle ich? Welchen Moment halte ich fest? Was bleibt außerhalb des Bildes? Diese Selektion bedeutet, dass eine Fotografie immer eine Interpretation bleibt – nie eine reine Abbildung der Wirklichkeit.
Um zu verstehen, warum wir bestimmte Motive bevorzugen, greift Lockemann auf verschiedene wissenschaftliche Theorien zurück:
- Sozialpsychologische Theorien: Die Social Identity Theory von Tajfel & Forgas besagt, dass Menschen dazu neigen, die Welt in Kategorien einzuteilen, um sie besser verarbeiten zu können. Für Fotografen bedeutet das, dass wir fremde Kulturen oft als eine geschlossene Einheit betrachten, anstatt ihre Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Das Ergebnis ist, dass bestimmte Motive – zum Beispiel der Zen-Garten oder die Geisha – häufiger fotografiert werden als andere Aspekte des modernen Japan (S. 37).
- Stereotypen und Wahrnehmungsfilter: Walter Lippmann beschreibt in seinen Arbeiten zur Wahrnehmungspsychologie, dass wir nicht nur die Realität sehen, sondern auch unsere kulturelle Prägung in die Wahrnehmung einbringen. Das bedeutet für Fotografen: Wir suchen oft nach dem, was wir bereits als typisch kennen. Wer Japan besucht, nimmt vielleicht zuerst die traditionellen Elemente wahr und übersieht die Hochhäuser, das Chaos der Metropolen oder die weniger bekannten Seiten des Landes (S. 38).
- Ethnologische Perspektiven: Eine Methode, die helfen kann, einen reflektierteren Blick auf das Fremde zu entwickeln, ist die Teilnehmende Beobachtung, die Lockemann aus der Ethnologie diskutiert. Sie bedeutet, sich wirklich auf einen Ort einzulassen, bevor man fotografiert – also nicht sofort zur Kamera zu greifen, sondern erst einmal wahrzunehmen, zuzuhören und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Wer dies praktiziert, hat die Chance, weniger vorhersehbare, unentdeckte Motive zu finden
Diese Theorien zeigen, dass unsere Wahrnehmung immer gefiltert ist. Doch sie geben auch Ansätze, wie wir bewusster fotografieren können. Statt impulsiv bekannte Motive zu reproduzieren, könnten wir innehalten, uns fragen: Welche Elemente dieser Szene habe ich übersehen? Welche Geschichte erzählt dieser Ort jenseits der bekannten Klischees?
Der Anspruch, objektiv zu fotografieren, ist eine Illusion. Doch die Reflexion darüber, wie unser Blick geformt wird, kann uns helfen, authentischere, bewusstere Bilder zu schaffen.

Zwischen Klischee und Realität: Welche Impulse gibt Lockemann?
Wer fotografiert, entscheidet, welche Momente festgehalten werden und welche außerhalb des Bildes bleiben. Diese Entscheidung ist nicht nur technischer Natur, sondern folgt oft unbewusst den kulturellen Prägungen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen.
Ein wichtiger Impuls ist die bewusste Dekonstruktion von Klischees. Anstatt sich auf bekannte Bilder und Erwartungen zu verlassen, lohnt es sich, aktiv nach Motiven zu suchen, die das Ungewohnte, das Alltägliche oder das scheinbar Unauffällige in den Vordergrund rücken. Manche Fotografen entscheiden sich bewusst gegen die Inszenierung von Exotik und dokumentieren stattdessen das Unspektakuläre.
Fotografie zeigt nicht nur das Fremde, sondern immer auch denjenigen, der hinter der Kamera steht. Die Art, wie wir eine Szene einfangen, erzählt nicht nur etwas über den Ort, sondern auch über unsere eigenen Erwartungen, Vorurteile und unser Verständnis von Ästhetik. Bilder sprechen eine Sprache, die aus unserem kulturellen Kontext heraus entsteht, selbst wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Das bedeutet, dass wir als Fotografen nicht nur „sehen“, sondern auch „gelesen werden“ – unsere Bilder spiegeln unseren Blick auf die Welt.
„Bilder im Kopf, Klischees, Stereotypen oder Vorurteile beeinflussen die Wahrnehmung des Fremden. »Wir sehen, was wir wahrzunehmen gelernt haben und zu erwarten gewohnt sind und suchen deshalb in der Realität selektiv eher nach Hinweisen, die unsere Erwartungen bestätigen, als nach Falsifizierungen. Entgegengesetzte Erfahrungen und Informationen werden gerne unterdrückt, ignoriert oder als ›Ausnahme von der Regel‹ abgetan« (K. Roth
1998: 32).“ (Lockemann Seite 41)
Ein praktischer Ansatz, um bewusster mit diesen Themen umzugehen, ist die Methode der teilnehmenden Beobachtung. Statt sofort zur Kamera zu greifen, empfiehlt Lockemann, einen Ort intensiv wahrzunehmen, Geräusche und Lichtstimmungen aufzunehmen und erst dann zu entscheiden, was fotografiert werden soll. Diese ethnologische Methode hilft, sich von bekannten Sehgewohnheiten zu lösen und neue Perspektiven zu entdecken.
Letztlich geht es nicht nur darum, Bilder zu machen, sondern auch über das Warum und Wie zu reflektieren. Was genau hat meine Aufmerksamkeit erregt? Welche Elemente eines Ortes habe ich übersehen? Diese Fragen ermöglichen eine tiefere, bewusstere Form der Fotografie – eine, die nicht nur wiederholt, sondern wirklich Neues sichtbar macht.

Japanische Ästhetik in der Wahrnehmung: Ma, Wabi-Sabi und Mono no Aware
Lockemann selbst geht in ihrer Dissertation nicht explizit auf die japanische Ästhetik ein. Dennoch lassen sich einige ihrer Beobachtungen mit Konzepten wie Ma, Wabi-Sabi und Mono no Aware in Verbindung bringen. Ihre Analyse zur Wahrnehmung des Fremden, zur Wirkung von Leerstellen in der Fotografie und zur subjektiven Prägung unseres Sehens eröffnet Parallelen zu diesen ästhetischen Prinzipien.
Ein zentrales Thema ist der bewusste Umgang mit Unschärfen, Andeutungen und Zwischenräumen. Lockemann beschreibt, dass einige Fotografen gezielt Leerstellen in ihren Bildern einsetzen, um eine offenere und interpretierbare Bildsprache zu schaffen. Dieses Prinzip erinnert an das Konzept von Ma – dem bewussten Zwischenraum, der in der japanischen Ästhetik eine zentrale Rolle spielt. In der Fotografie kann Ma als Raum der Stille, des Ungesagten und des offenen Deutungsraums verstanden werden.
Auch die Idee von Wabi-Sabi, der Schönheit des Unvollkommenen und Vergänglichen, findet sich in der künstlerischen Fotografie wieder. Lockemann verweist darauf, dass manche Fotografen sich bewusst von überästhetisierten und perfekt komponierten Motiven lösen und stattdessen das Zufällige und Vergängliche in den Fokus rücken. Diese Haltung entspricht der japanischen Ästhetik des Wabi-Sabi, die das Rohe, das Nicht-Perfekte und die Spuren der Zeit wertschätzt.
Ein weiterer Aspekt ist das Prinzip von Mono no Aware, der Empfindsamkeit für die Vergänglichkeit der Dinge. Lockemann beschreibt, dass Fotografien, die sich mit dem Alltäglichen beschäftigen und keine überdramatisierte Inszenierung anstreben, oft eine tiefere emotionale Wirkung entfalten. Dies entspricht der japanischen Haltung, in der das Flüchtige, das Vergängliche und das Einmalige als Quelle ästhetischer Empfindung betrachtet wird.
Auch wenn Lockemann diese Begriffe nicht explizit verwendet, bieten ihre Analysen einen Zugang dazu, wie wir als Fotografen bewusst mit Leere, Imperfektion und Vergänglichkeit umgehen können. Es geht darum, nicht nur das Offensichtliche zu sehen, sondern den Raum dazwischen zu erkunden – nicht nur das Perfekte zu suchen, sondern das Unfertige und Vergängliche als Teil der fotografischen Sprache zu begreifen.

Fazit: Sehen lernen – Ein Plädoyer für bewusstes Wahrnehmen
Das bewusste Wahrnehmen beginnt mit der Erkenntnis, dass unser Blick nie neutral ist. Wir sehen durch die Linse unserer kulturellen Prägung, unserer Erfahrungen und Sehgewohnheiten. Bettina Lockemann hat gezeigt, wie diese Mechanismen in der fotografischen Darstellung des Fremden wirken und wie sich Stereotype in Bildern verfestigen. Diese Einsicht lässt sich nicht nur auf die Dokumentarfotografie, sondern auch auf die Naturfotografie übertragen.
Das Fremde zu sehen, bedeutet nicht nur, es zu betrachten, sondern es auch zu begreifen. Es ist ein Dialog zwischen dem, was wir wahrnehmen, und dem, was sich unserer Wahrnehmung entzieht. Lockemann verweist darauf, dass sich das Fremde nicht in einem einzelnen Bild erfassen lässt, sondern erst in der Serie, in der Abfolge von Bildern, die sich gegenseitig ergänzen und widersprechen. In der japanischen Fotografie hat dieser Ansatz eine lange Tradition. Der Kurator Yamagishi Shoji beschreibt, dass japanische Fotografen ihre Werke häufig in Buchform präsentieren, weil nur in der Abfolge die vollständige Wirkung ihrer Arbeit erfahrbar wird (Yamagishi 1974).
Sehen lernen bedeutet, sich auf diese Vielschichtigkeit einzulassen. Es bedeutet, sich nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden zu geben, sondern zu hinterfragen, was wir sehen und warum wir es so sehen. Der britische Kurator Mark Holborn beschreibt zwei mögliche Wege, sich fotografisch mit Japan auseinanderzusetzen: Entweder man stellt sich dem visuellen Chaos und sucht eine Strategie, es zu ordnen, oder man versucht, hinter die Oberfläche zu blicken, um ein tieferes Verständnis zu gewinnen (Holborn 1986). Diese Herangehensweise lässt sich auch auf die Naturfotografie übertragen. Statt nur das Offensichtliche zu erfassen, können wir versuchen, hinter die Fassade des Bekannten zu blicken – das Unscheinbare, das Widersprüchliche und das Flüchtige wahrzunehmen.
Wer sich auf diesen offenen Blick einlässt, kann eine tiefere Ebene der Wahrnehmung entdecken und Bilder schaffen, die nicht nur festhalten, sondern erzählen. Denn das wahre Sehen beginnt dort, wo wir uns von Erwartungen lösen und die Welt in ihrer ganzen Vielschichtigkeit betrachten.
Quelle: Bettina Lockemann (2007): „Das Fremde sehen – Der europäische Blick auf Japan in der zeitgenössischen Fotografie“ Dissertation an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart im Fachbereich Kunstwissenschaft. ISBN 978-3-8376-1040-6 transcript Verlag, Bielefeld
https://library.oapen.org/bitstream/id/3dbb81ca-485f-47e7-b256-c929a8c3867a/1007465.pdf
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