Vom Goldenen Schnitt und Tsuriai in der Fotografie: Finde Deine Bildbalance
In der westlichen Kunst ist der Goldene Schnitt die proportio divina „göttliche Proportion“ bzw. die Weiterführung in Form der Fibonacci-Spiralen die Gestaltungsregel schlechthin. Wenn man sich mit der Fotografie und Bildgestaltung intensiver auseinandersetzt kommt man nicht umhin, sich damit zu beschäftigen. Nicht umsonst habe ich diesem Thema in meinen Büchern viele Kapitel und Fotoübungen gewidmet.
In Europa ist der Goldene Schnitt seit der griechischen Antike nachgewiesen, aber erst in der Renaissance erhielt er einen größeren Bekanntheitsgrad, was wir bekannten Künstlern wie Leonardo da Vinci oder Friedrich Hölderlin zu verdanken haben. Die Frage die ich mir stelle, wie sieht das in Ostasien an. Ich liebe die japanische Ästhetik. Aber hat der Goldene Schnitt dort den selben Stellenwert wie bei uns in Europa? Die Frage kann ich nicht beantworten, aber ich weiß, dass es in Japan ein eigenes Gestaltungskonzept gibt.
Hast du schon mal vom „Tsuriai“ (釣り合い) gehört? In der japanischen Ästhetik geht es bei diesem Konzept um Balance und Harmonie. Während der goldene Schnitt auf einem festen Verhältnis basiert, setzt Tsuriai auf ein intuitives Gespür für Proportionen. Das klingt vor allem für uns Naturfotografen äußerst spannend. Lass uns mal tiefer eintauchen.
Ungerade Vielfache für das perfekte Bild
In der japanischen Kunst werden oft ungerade Vielfache verwendet. Stell dir vor: 1, 2, 3, 5, 7 und 9. Diese Vielfachen beziehen sich auf Maßeinheiten wie Sun (etwa 3 cm) oder Shaku (etwa 30 cm). Warum ungerade Zahlen? Sie bringen ein Gefühl von Dynamik und Lebendigkeit ins Spiel.
Die japanischen Längenmaße des Shaku-Sun Systems
Die japanischen Längenmaße des Shaku-Sun Systems sind:
1 shaku = 10 sun = 100 bu = 1000 rin
Shakkanhō (尺貫法) kane-shaku: Für gewöhnliche Dinge des täglichen Alltags (kane = Metall -> Architektur und generell gestaltete Dinge) gilt, das ein kane-shaku ungefähr 30,3 cm entspricht. Ein sun sind also 3,03 cm, ein bu etwa 0,303 cm.
Es basiert auf dem chinesischen Maßsystem, das in ganz Ostasien Verbreitung fand. Es wird aber heute kaum noch verwendet.
BU: Die Tatamimatten im Raum habe ich mit der KI Adobe Firely erstellt.
Ein Beispiel aus der japanischen Kunst:
Tatami-Matten: Diese Matten haben ein Verhältnis von 1:2.
In der Fotografie könntest du dieses Prinzip nutzen, um deine Kompositionen zu strukturieren und Räume harmonisch zu füllen.
Ikebana: Die Blumenkunst verwendet Proportionen wie 2/3 oder 3/4.
Übertrage das auf deine Fotos: Spiel mit den Längen und Abständen von Objekten, um ein ausgewogenes Bild zu schaffen.
Harmonie und Proportionen
Harmonie: Denk an die Kombination von 5 und 7, was 12 ergibt. Das sind 4 Sun (12 cm). Im Kern geht es darum, Elemente so anzuordnen, dass sie sich gegenseitig ergänzen und ein harmonisches Ganzes bilden.
Goldener Schnitt vs. Tsuriai: Der goldene Schnitt ist präzise und mathematisch. Tsuriai dagegen ist flexibler und lässt Raum für dein Gefühl und deine Kreativität.
Flexibilität und Intuition
Tatami-Matten: Sie sind standardisiert, aber ihre Anordnung im Raum folgt dem Prinzip von Tsuriai, um Balance zu schaffen. In deinen Fotos kannst du ähnlich vorgehen, indem du Elemente harmonisch im Bild platzierst.
Ikebana: Verschiedene Schulen haben unterschiedliche Regeln, aber das Ziel bleibt immer die ästhetische Harmonie. Das Gleiche gilt für deine Fotos: Folge deinem Instinkt und schaffe ein ausgewogenes Bild.
Bildliche Darstellung Tsuriai
Doch wie kann man sich Tsuriai bildlich vorstellen? Sicherlich kennst du die Darstellung vom goldenen Schnitt und der Fibonacci Spirale? Auf Grundlage dieser habe ich mit ChatGPT eine Darstellung des Tsuriai angefertigt. Mir hilft es immer, wenn von Zahlen wie 1,2,3,5,7,9 oder 2/3 oder 3/4 Teilungen geredet wird, eine bildliche und räumliche Vorstellung davon zu bekommen. Im Gegensatz zum Goldenen Schnitt unterliegt Tsuriai keiner mathematischen Formel, daher ist die Darstellung an Tatamimatten im Raum angelehnt.
Um also eine ähnliche Grafik für Tsuriai zu erstellen, könnten wir die Idee der ungeraden Vielfachen und harmonischen Proportionen visualisieren. Eine Möglichkeit wäre, eine Anordnung von Rechtecken und Kreisen zu nutzen, die auf den Proportionen basieren, die häufig im japanischen Design verwendet werden (z.B. 1:2, 2/3, 3/4).
Die Graphik soll ein Gefühl für Balance und Harmonie im Raum verbildlichen.
Gegenüberstellung der beiden Konzepte in Form von Grafiken:
Goldener Schnitt
Goldener Schnitt
Auf der linken Seite siehst du die klassische Spirale des goldenen Schnitts, die auf einem festen mathematischen Verhältnis basiert.
Diese Spirale findet sich häufig in der Natur und wird oft in der Kunst und Fotografie verwendet, um eine ästhetisch ansprechende Komposition zu schaffen.
Tsuriai (Harmonie)
Tsuriai (Harmonie)
Auf der rechten Seite habe ich eine Grafik erstellt, die das Konzept von Tsuriai darstellt. Diese verwendet ungerade Vielfache und harmonische Proportionen wie 1:2, 2/3 und 3/4. Die Anordnung von Rechtecken und Kreisen veranschaulicht, wie diese Proportionen in einer Komposition genutzt werden können, um ein Gefühl von Balance und Harmonie zu erzeugen.
Bildene Künstler Tsuriai
Tsuriai als philosophisches und gestalterisches Konzept ist tief in der japanischen Kunst und Kultur verwurzelt. Ich habe ein paar (japanische) Fotografen herausgesucht in denen tsuriai eine zentrale Rolle spielt:
Hiroshi Sugimoto: Bekannt für seine Serien von minimalistischen Schwarz-Weiß-Fotografien, die oft ein starkes Gefühl für Balance und Harmonie zeigen. Seine Arbeiten reflektieren eine tiefe Auseinandersetzung mit der japanischen Ästhetik und den Prinzipien von Tsuriai.
Rinko Kawauchi: Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine subtile und oft poetische Komposition aus. Sie verwendet Licht, Farbe und Form auf eine Weise, die eine harmonische Balance schafft und eine ruhige, meditative Atmosphäre erzeugt.
Masao Yamamoto: Yamamoto ist bekannt für seine kleinen, intimen Fotografien, die oft an traditionelle japanische Kunst erinnern. Seine Arbeiten betonen die Harmonie und das Gleichgewicht zwischen den Elementen und schaffen eine tiefe emotionale Resonanz.
Michael Kenna: Ein britischer Fotograf, der oft in Japan arbeitet und dessen minimalistischer Stil und ruhige Kompositionen stark von der japanischen Ästhetik beeinflusst sind. Kenna schafft Bilder, die eine tiefe Ruhe und Harmonie ausstrahlen.
Werner Bischof: Ein Schweizer Fotograf, dessen Arbeiten ebenfalls Elemente der japanischen Ästhetik integrieren. Seine Fotografien aus Japan zeigen oft eine sorgfältige Balance und Harmonie, die typisch für tsuriai ist.
Toshio Shibata: Ein japanischer Fotograf, der für seine großformatigen Bilder von Infrastruktur und Landschaften bekannt ist. Shibata kombiniert moderne Strukturen mit der natürlichen Landschaft auf eine Weise, die eine harmonische Balance schafft.
Naturfotografie mit Seele: Galerie Tsuriai – Balance und Harmonie im Raum
Anwendung der Prinzipien in der Fotografie
Welche Techniken kannst du in der Naturfotografie einsetzen, um die Prinzipien von tsuriai in deiner Arbeit anzuwenden?
- Minimalismus: Durch die Reduktion auf das Wesentliche schaffen sie eine ausgewogene und harmonische Bildkomposition.
- Licht und Schatten: Der Einsatz von Licht und Schatten kann helfen, ein Gefühl der Balance zu erzeugen und die verschiedenen Elemente eines Fotos harmonisch zu verbinden.
- Proportionen: Die Anwendung von harmonischen Proportionen, ähnlich wie in der japanischen Gartenkunst oder Ikebana, kann helfen, ein Bild ausgewogen und ästhetisch ansprechend zu gestalten.
- Negative Space: Der bewusste Einsatz von Leerraum (Ma) schafft Balance und lässt die Hauptmotive stärker wirken.
Fazit
Tsuriai ist kein striktes Regelwerk – es ist vielmehr eine Philosophie. Es geht vielmehr darum, deine Intuition zu schärfen und ein Gefühl für Balance und Harmonie zu entwickeln. Egal, ob du Landschaften, Porträts oder Street Photography machst, dieses Konzept kann dir helfen, deine Kompositionen zu verbessern und deinen Bildern eine persönliche Note zu verleihen.
Jana Mänz
„Fotografie aus Leidenschaft“, das ist das Motto der 1976 in Halberstadt geborenen künstlerischen Fotografin und Buchautorin Jana Mänz. Als Natur- und Landschaftsfotografin zeigt sie uns die Welt auf ungesehene Weise. Die Abbildung der Wirklichkeit lässt sie dabei gerne hinter sich, um mit ganz eigener Handschrift Bilder zu schaffen, die im Gedächtnis bleiben. Gerne gibt Jana Mänz ihr Wissen weiter: Sie unterrichtet Fotografie und Bildbearbeitung.