Die Stille eines Novembernebelmorgens
„In der Stille der Natur wird man wahre Glückseligkeit finden.“
J. J. C. Smart
Die Natur, das Leben ist so wunderschön, nicht? Ich kann es gar nicht gut genug in Worte fassen. So überwältigend, vielfältig, lebensbejahend sie ist, so ist sie im gleichen Atemzug das genaue Gegenteil. Sie zerstört Leben, reißt es mit sich fort. Das ist der Kreislauf des Lebens. Aus jedem Vergehen entsteht neues Leben. Von außen betrachtet, kann es beruhigen. Wenn man selber betroffen ist, nimmt es einem dem Atem und zum Teil die Kraft, weitermachen und weiterleben zu wollen. Über den Tod reden wir nicht gerne. Und noch schlimmer, am liebsten negieren wir ihn.
In unserer Gesellschaft zählt scheinbar nur wer jung, gesund und super resilient ist. Der Tod anderer wird zum Teil billigend in Kauf genommen, solange er uns nicht selber betrifft und uns in unserer Lebensweise weiterbringt. Die moderne Gesellschaft hat kein Erbarmen mit Menschen, die Verlust, Leid erlitten haben und trauern. Business as usual lautet die Maxime: schneller, höher, weiter. Jeder ist Ersetzbar. Wer das Spiel nicht mitmacht, ist außen vor, während die anderen weiter feiern, als wäre nichts gewesen. Wer nach einem Jahr immer noch trauert, braucht wohl eine Therapie. Das Leben muss ja schließlich weitergehen, da ist kein Platz für Gefühlsduselei.
Das Menschen in dieser Gesellschaft immer mehr vereinzeln und einsamer werden, ist kein Wunder. Nicht jeder kann verdrängen und einfach weitermachen. Wie kann man diesen Zeitgeist anhalten? Wie kann man Menschen wieder empathischer, liebevoller, achtsamer, hilfsbereiter im realen Leben machen? Ich denke, dass der überwiegende Teil der Menschheit sehr sozial veranlagt ist. Das sieht man immer bei großen Katastrophen, wie schnell Menschen sich bereit erklären, selbstlos zu helfen. Aber im Alltäglichen ist es eher schwieriger. Wie oft sterben ältere Menschen einsam in der Nachbarschaft und niemand bekommt es mit? Menschen die sich verstecken, wenn sie das Gefühl haben, nicht mithalten zu können und sich schämen um Hilfe zu bitten.
„Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist die neoliberale Erziehung, die wir von Kindheit an, eingetrichtert bekommen. Helfen, Mitleid haben, ist nur was für Schwache. Es geht darum zu gewinnen, Erster zu sein. Da darf man auch schon mal mogeln und betrügen, wenn es weiterhilft, vor den anderen als Held dazustehen. Ich habe es als Jugendliche selbst erlebt, als ein Klassenkamerad beim Sport verstarb. Nach einer kurzen 10minüten Trauerrede ging der Unterricht weiter. Da blieb keine Zeit für verarbeitende Gespräche. Niemand hat sich getraut zu weinen.
Aus heutiger Sicht empfinde ich diesen Tag als makaber. Wie ein böser Traum und gleichzeitig sehe ich den jungen Mann immer noch in meiner Erinnerung mir schräg gegenübersitzen und wie er immer gelacht hat. Auch wenn sein Körper vergangen ist, seine Seele ist immer noch da. So wie ich die Seelen meiner verstorbenen Familie immer noch spüre. So lange wie wir uns erinnern und sie nicht vergessen, sind sie für uns lebendig.
„In jeder Veränderung, in jedem fallenden Blatt steckt etwas Schmerz, etwas Schönheit. Und das ist die Art, wie neue Blätter wachsen.“
Amit Ray
Als ich ungefähr 8 Jahre alt war, habe ich meine beste Freundin durch einen Gehirntumor verloren. Ich besitze nicht viele Erinnerungen, aber es gibt ein Bild, das sie bis heute lebendig hält. Vor ein paar Jahren ist etwas passiert, dass unglaublich klingt. Ich machte ein Bild von meinem Sohn mit seinen zwei besten Freundinnen im Arm. Es dem Bild so verblüffend ähnlich, welches ich von meiner Freundin und mir im ungefähr selben Alter habe und ich hatte das Gefühl, das in einem dieser Mädchen meine Freundin weiterlebt. Ich liebe dieses Bild und ich habe beide auf einer Seite im Fotoalbum verewigt. Fotografieren ist eine wunderbare Sache, um Trauer und Verlust zu verarbeiten.
Die Naturfotografie war vor vielen Jahren der Anker, der mir geholfen hat, den Verlust meines Vaters irgendwie zu überstehen. Das war eine schlimme Zeit, zumal ich in diesem Jahr nicht nur meinen Vater, sondern auch meinen Opa und Schwiegermutter verlor. Das war zu viel für mich und ich konnte nur vergessen, wenn ich stundenlang auf der Wiese gesessen und Insekten und Blumen fotografiert habe. Nun, jeder geht anders mit Trauer um. Der eine verarbeitet es besser, der andere schlechter. Trauer ist sehr individuell und wir dürfen nicht unser Empfinden auf andere überstülpen. Der eine geht feiern, weil er vergessen möchte, der andere gräbt sich zu Hause ein und bricht allen Kontakt ab, weil er die Beileidsbekundungen nicht ertragen kann.
Ich möchte darüberschreiben, weil der Tod mich seit meiner Kindheit an begleitet. Ich habe so etwas wie einen sechsten Sinn, eine ausgeprägte Intuition, da ich das Unheil schon oft im Voraus spüre. Und noch schlimmer, dass ich davon träume, wenn etwas Katastrophales passiert.
Vor einigen Jahren wurde ich eingeladen. In der Nacht vor der Fahrt träumte ich furchtbares Zeug, sodass ich am anderen Morgen den Besuch absagte. Ich hatte so ein schlimmes Bauchgefühl, das ich absolut nicht fahren wollte. Ein paar Wochen später erfuhr ich, dass meine Vorahnung mich nicht betrogen hatte.
Das Haus, in welches ich eingeladen wurde, ist in der Nacht darauf von einem Sturm, besser gesagt von einem kleinen Tornado komplett zerstört wurden. Die Autos im Garten sind meterweit davongeflogen. Die Familie, die uns eingeladen hatte, sagte hinter her zu mir: „Jana, wir waren froh, dass ihr nicht gekommen seid. Es war ein Alptraum.“ Glücklicherweise ist niemand zu Schaden gekommen, aber der Schrecken saß tief. Und bis heute ist es an mir, meinem Bauchgefühl zu vertrauen, auch wenn es vielleicht keine äußeren Umstände, keine realen Fakten gibt, die das beweisen könnten und es mit Verstand und Logik nicht zu erklären ist.
In meinem Buch „Gefühl und Verstand – Naturfotografie“ habe ich das Thema Träume, Trauer, Tod natürlich thematisiert. Denn es beeinflusst bewusst und unbewusst die Art unserer Fotografie. Das ist für mich wichtig zu verstehen, es ist die Grundlage unserer Bildsprache. Menschen, die sich ihrer Gefühle und Emotionen nicht bewusst sind, sie sogar verdrängen und rein „mechanisch“ agieren, sind eher weniger in der Lage, Gefühle in ihren Bildern zu transportieren noch gefühlvoll zu fotografieren. Oder sie sogar bewusst einzusetzen. Die Ergebnisse sind häufig technisch perfekte Bilder ohne Seele.
Wenn ich mit Menschen rede, die vor einiger Zeit ebenfalls Trauer und Verlust erlitten haben, erzählen, dass ihre Bilder in der darauffolgenden Zeit, dunkel und düster geworden sind. Das ist kein Zufall. Denn das geschieht automatisch, auch wenn wir diesen Prozess nicht immer in all ihren Facetten wahrnehmen. Die Frage ist aber, was passiert mit unserer Fotografie, wenn wir bewusst unsere Gedanken, Gefühle und Emotionen auf unserer Fotografie übertragen können?
Das geht, wenn wir lernen, uns zu spüren, wahrzunehmen und dann lernen, wie sehen zum Beispiel melancholische Bilder aus. Haben sie nicht eine Art Schleier, eine gewisse Unschärfe? Sind die nicht düster, verhangen, leicht mystisch und undurchdringlich? Was sind die bildgestalterischen Elemente, die Melancholie ausdrücken? Welche spezifischen technischen Parameter brauche ich, um sie an der Kamera einzustellen. Und noch ein Aspekt, den ich für sehr wichtig erachte.
Ich denke, das vor allem Sebastião Salgado und sein Team ihn wunderbar beherrschen. Sie besitzen die feinfühlige Gabe, Gefühle und Emotionen in anderen zu erkennen und sie in ihrer Würde im Bild festzuhalten. Durch den Verzicht auf Farbe, fallen unwichtige Elemente weg und verdichten den Moment. Nicht umsonst strahlen diese Bilder eine Tiefe aus, die vielfach – mir zumindest – das Herz stehen lassen. So sehr, dass ich eigentlich lieber davonlaufen möchte, als selber mit der Kamera mitten hineinzugehen. Mir selber fehlt die Gabe für diese Art der Aufnahmen. Aber nicht weil, ich die Stimmungen nicht spüre, Gefühle nicht wahrnehmen kann, sondern weil sie mich als Hochsensibler Mensch fluten, weil ich dort lieber alleine wäre statt mit einem Team zu arbeiten. Diese Bilder, und das sagt Salgado offen, sind im Alleingang nicht zu realisieren.
Aus diesem Grund bevorzuge ich die Naturfotografie. In meiner schlimmsten Trauerphase sind mit die schönsten Naturbilder entstanden. Einfach weil ich mich völlig alleine auf den Moment in der Natur komplett eingelassen habe. Ich wollte meinen Schmerz vergessen, wollte abschalten. Die Natur schenkt uns diese Kraft, wir müssen sie nur annehmen wollen, ohne die Trauer, den Tod abzuweisen. Er gehört zu uns wie das Leben. Ohne den Tod gibt es kein Leben. Der immer wiederkehrende Kreislauf. Bis es uns eines Tages erwischt und wir mit unseren Bildern in den Erinnerungen unserer Lieben für ewig verbleiben.
Was können wir Wertvolleres hinterlassen?
Ich wünsche meinen Lesern einen besinnlichen Totensonntag/Ewigkeitssonntag.