Selbstständig: Mit Herz und Verstand durch Höhen und Tiefen
Über mein LinkedIn-Netzwerk bin ich auf die WebParade „Ich bin solo-selbstständig! aufmerksam geworden. Mit großem Interesse habe ich die Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gelesen. Doch was ich dabei empfunden habe, war alles andere als inspirierend. Statt eines ehrlichen Blicks auf die Realität strotzen viele Texte vor Erfolgsgeschichten und Tipps, die wie Floskeln wirken – nichtssagend, glatt, ohne Substanz.
Ich frage mich, wo die Ehrlichkeit geblieben ist. Wo sind die Geschichten, die auch von den dunklen Tagen erzählen, von den Zweifeln, vom Scheitern? Ich vermisse die Wärme, die Verletzlichkeit, das Herzblut. Stattdessen scheint in vielen Beiträgen ein neoliberaler Grundgedanke mitzuschwingen: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Diese Haltung stimmt mich traurig. Denn sie lässt keinen Raum für die Realität, die oft viel komplexer ist.
Ich weiß, wie es ist, durch schwierige Zeiten zu gehen. Ich komme aus einer Familie, in der fast alle selbstständig waren – im Handwerk, im Dienstleistungsbereich. Und ich habe früh gelernt, dass Selbstständigkeit nicht nur Freiheit bedeutet, sondern auch Unsicherheit, Risiko und bisweilen sogar Existenzangst bis hin zur bitteren Insolvenz, in der man mehr verliert als nur ein Unternehmen.
Als Künstlerin habe ich noch einmal ganz eigene Herausforderungen. Kunst wird oft als „Nice-to-have“ wahrgenommen, als etwas, auf das man leicht verzichten kann, wenn die wirtschaftlichen Zeiten schwierig werden. Und genau das spüren derzeit viele Künstlerinnen und Künstler: Inflation, steigende Lebenshaltungskosten – das macht es schwer, mit dem, was wir lieben, über die Runden zu kommen.
Die Kunstgeschichte ist voll von Beispielen von Künstlern, die zu Lebzeiten kaum Anerkennung fanden und später als Genies gefeiert wurden. Man denke nur an Caspar David Friedrich, dessen Werke zu Lebzeiten oft abgelehnt wurden. Viele seiner Bilder, die heute Millionen von Euro erzielen, wurden von seinen Zeitgenossen nicht verstanden oder schlicht übersehen. Friedrichs Visionen, die den romantischen Blick auf die Natur und das Göttliche in einer sich rasant verändernden Welt widerspiegeln, waren seiner Zeit weit voraus. Statt des Beifalls seiner Zeitgenossen litt er unter der Ablehnung seiner Werke (Warum Goethe Friedrich ablehnte) und starb verarmt und unbeachtet. Heute jedoch gehören seine Bilder zu den teuersten und bedeutendsten des 19. Jahrhunderts. Das zeigt, wie wenig vorhersehbar der Wert von Kunst in ihrer Zeit ist – und wie schwer es Künstler oft haben, zu Lebzeiten Anerkennung zu finden.
Nicht, dass ich mich mit Caspar David Friedrich vergleichen möchte, aber ich fühle mit den schwierigen Lebenswegen und den äußeren Umständen, die wir oft nicht beeinflussen können. Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen kann ich mich sehr gut in andere Künstler hineinversetzen.
Es gibt Tage, Wochen, in denen ich mit kreativen Blockaden kämpfe und gleichzeitig darüber nachdenke, wie ich mich weiterentwickeln kann. Ein Widerspruch in sich. Ich versuche gleichzeitig zu verstehen, was Menschen brauchen, womit ich ihnen helfen kann. Das ist gar nicht so einfach in einer Welt, die scheinbar voll von Überfluss ist. Aber ist sie das wirklich? Denn neben dem materiellen Überfluss nehme ich vor allem einen Mangel an Herzenswärme, Empathie, Hilfsbereitschaft und Verständnis wahr.
Die Wahrheit liegt im Dazwischen
Selbstständig zu sein, ist mehr als Umsatzsteigerungen oder der perfekte Marketingplan. Es bedeutet, dass man alles gibt, was man hat – Zeit, Energie, manchmal auch Tränen. Es bedeutet, mitten in der Nacht wachzuliegen und zu überlegen, wie man die nächsten Monate übersteht. Und es bedeutet, auch in den schwierigen Momenten nicht aufzugeben, weil da diese Flamme ist: Die Liebe zu dem, was man tut. Das kostet unglaublich viel Kraft!
Was mich traurig macht, ist, dass viele Beiträge nicht den Mut haben, diese andere Seite zu zeigen. Die Seite, die Zweifel hat, die scheitert und wieder aufsteht. Die, die ehrlich sagt: „Heute war ein schlechter Tag.“ Stattdessen wirken viele Texte wie ein ideologisches Manifest: „Du bist selbst verantwortlich dafür, dein Schicksal in die Hand zu nehmen.“ Aber das Leben ist nicht so einfach. Es gibt äußere Umstände, wirtschaftliche Krisen, persönliche Herausforderungen – Dinge, die wir nicht kontrollieren können, egal wie sehr wir uns anstrengen.
Gleichzeitig bin nicht der Typ, der sich jeden Morgen vor den Spiegel stellt und sich durch Affirmationen Mut zuspricht. Ich bin keine, die sich in eine Zen-Blase zurückzieht und die Augen vor der Realität verschließt, um die innere Blüte zu finden. Selbständigkeit bedeutet für mich, sich den Herausforderungen zu stellen – ehrlich und pragmatisch. Das sind schwierige Momente. Und ja, sie schmerzen.
Was mir besonders wichtig ist: Es gibt Zeiten, in denen es sinnvoll ist, sich Unterstützung zu holen – sei es durch einen Nebenjob, durch Weiterbildung oder durch den Austausch mit anderen. Ich kenne befreundete Künstlerinnen und Künstler, die sich in den letzten Monaten bewusst neue Einkommensquellen erschlossen haben, um ihre Kunst weiter betreiben zu können. Aber bei aller Unterstützung sollte man sich auch bewusst machen, dass man in den wirklich wichtigen Momenten alleine ist und selbst entscheiden muss. Dazu braucht es Mut, und man darf sich nicht vor einer Entscheidung drücken, auch wenn sie sich am Ende als Fehler erwiesen hat und man statt auf seinen Verstand lieber auf sein Bauchgefühl gehört hätte.
„Selbstständigkeit ist ein Weg, der uns wachsen lässt, wenn wir ihn mit Liebe und Ehrlichkeit gehen. Nicht die äußeren Erfolge zählen, sondern die Momente, in denen wir spüren, dass wir mit unserer Arbeit etwas bewegen – in der Welt und in uns selbst.“
Für mich geht es in erster Linie darum, authentisch zu bleiben, mit Herz und Verstand zu arbeiten. Darum, sich selbst treu zu bleiben – auch wenn das manchmal bedeutet, neue Wege zu gehen, sich auszuprobieren, auch auf die Gefahr hin, dass es den bestehenden Kunden nicht gefällt.
Es ist die Freude, wenn ich spüre, dass meine Arbeit jemandem wirklich etwas bedeutet. Wenn ein Foto das ich gemacht habe oder ein Buch das ich geschrieben habe, einen Menschen berührt. Wenn ein Projekt, an dem ich monatelang gearbeitet habe, einen kleinen Unterschied macht.
Aber diese Momente kommen nicht von selbst. Sie entstehen aus harter Arbeit, aus Verzweiflung, aus inneren Kämpfen und Widerständen, aber auch aus Authentizität. Aus dem Mut, man selbst zu sein und sich nicht ständig mit anderen zu vergleichen.
Wenn mich heute jemand fragt, wie mein handgemachtes Buch „Gefühl und Verstand“ entstanden ist, dann antworte ich: Mit viel Blut (kaputte Finger beim Buchbinden :-) )Schweiß, Tränen, Ängsten und vielen durchgemachten Nächten, in denen ich gegen innere und äußere Widerstände gekämpft habe. Es ist nicht romantisch, ein Buch zu schreiben und zu veröffentlichen.
Die Selbständigkeit ist kein leichter Weg, der leichter wird, wenn man spirituellen Bypass** betreibt oder auf Netzwerkveranstaltungen mit Smalltalk Visitenkarten verteilt. Selbstständigkeit ist ein Weg, der uns wachsen lässt, wenn wir ihn mit Liebe und Ehrlichkeit gehen. Und vielleicht ist das die wichtigste Lektion: Nicht die äußeren Erfolge zählen, sondern die Momente, in denen wir spüren, dass wir mit unserer Arbeit etwas bewegen – in der Welt und in uns selbst. Das ist unbezahlbar!
** Der spirituelle Bypass beschreibt die Tendenz, persönliche oder emotionale Probleme zu vermeiden, indem man sich auf spirituelle Konzepte oder Praktiken zurückzieht. Anstatt sich mit schwierigen Gefühlen, Konflikten oder Herausforderungen auseinanderzusetzen, werden diese durch positive Affirmationen, Meditation oder spirituelle Erklärungen übergangen. Das kann kurzfristig beruhigend wirken, verhindert jedoch oft eine tiefere, ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Realität.
Eine Einladung zur Ehrlichkeit
Wenn ich an Selbständigkeit denke, dann geht es in schwierigen Momenten nicht um Floskeln oder Affirmationen, sondern darum, sich ehrlich die Frage zu stellen: „Was brauche ich jetzt, um weitermachen zu können?“
Manchmal liegt die Antwort darin, neue Wege zu gehen. Manchmal ist es auch einfach, sich zu erlauben, müde zu sein, zu zweifeln, eine Pause zu machen. Das ist keine Schwäche, das ist Menschlichkeit.
Ich wünsche mir mehr Ehrlichkeit in solchen Beiträgen. Mehr Herz. Weniger Hochglanz. Denn was uns wirklich verbindet, sind nicht die Erfolge, sondern die Geschichten von Höhen und Tiefen – die Geschichten, in denen wir unser Herz sprechen lassen.
Der Artikel ist erschienen für die WebParade: Ich bin solo-selbständig! #WirSindSolo