
Unschärfe sehen – Warum nicht alles klar sein muss, um zu berühren
Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, ein gutes Bild müsse von vorn bis hinten scharf sein. Blende 8 – das war Gesetz. Möglichst viel Tiefenschärfe, möglichst klare Kanten, keine Zweifel. Damals, als junge Frau mit meiner ersten Kamera, habe ich das nicht hinterfragt. Es war einfach so – wie man gelernt hat, dass der Himmel blau ist oder dass man ein Stativ braucht, wenn es dunkel wird. Du kennst ihn vielleicht noch diesen einen Spruch „Blende 8 die Sonne lacht“.
Aber irgendwann kam dieses 50mm-Objektiv in mein Leben. Es ließ sich bis Blende 1.4 öffnen – eine kleine Offenbarung. Plötzlich begann ich, mit Unschärfe zu spielen. Nicht aus Versehen, sondern aus Neugier. Und ich verliebte mich. In die sanften Übergänge. In die Tiefe, die eben nicht mehr alles preisgibt. In das Bokeh – diese Lichtkreise, die sich je nach Objektiv unterschiedlich formen, mal rund, mal sechseckig, weich oder hart gezeichnet, je nach Anzahl und Form der Lamellen.
Bokeh, das japanische Wort für Unschärfe, wurde für mich ein künstlerischer Raum. Kein Fehler, sondern eine Einladung. Denn auch mein Leben war nie durchgehend scharf. Es gab Zonen, in denen ich nicht klar sah. Entscheidungen, die im Nebel lagen. Gefühle, die sich nicht greifen ließen. Ich begann, das als Teil des Ganzen zu begreifen – und meine Bilder veränderten sich.
Unschärfe wurde zu einem Spiegel. Für das, was nicht erklärbar ist. Für das, was sich entzieht. Für die Zwischenräume, die man nicht immer benennen, aber spüren kann. Und mit ihr kam eine neue Freiheit: Ich musste nicht mehr alles zeigen. Ich durfte andeuten. Verschweigen. Raum lassen.

Unschärfe als Befreiung – eine philosophische Spurensuche
Wie empfinden andere Unschärfe? Ist sie für sie ein Mangel, ein technischer Fehler, ein Verzicht auf das „richtige“ Bild? Oder ein Raum der Möglichkeiten? Und was sagt das über unseren Blick auf die Welt aus?
Lange Zeit galt Schärfe als Ausdruck von Kontrolle. Ein scharfes Bild war ein gutes Bild – technisch präzise, klar, beweisbar. Ein scharfes Bild ist wie ein Satz, der keine Fragen offenlässt.
Wer Unschärfe zeigte, riskierte, nicht ernst genommen zu werden. Vielleicht, weil man glaubt, dass nur das Sichtbare zählt. Nur das Messbare. Nur das Eindeutige. Lange folgte ich dieser Tradition.
Heute denke ich anders darüber: Ein unscharfes Bild ist wie ein Gedanke, der sich nicht ganz fassen lässt – und gerade deshalb länger bei uns bleibt.

Ludwig Wittgenstein, ein Philosoph, hat einmal gesagt, dass wir viele Dinge gar nicht genau beschreiben können – und dass das auch gar nicht schlimm ist. Worte, meinte er, sind wie eine große Familie: nicht alle sehen gleich aus, aber irgendwie gehören sie zusammen.
So ist es auch mit Fotografien. Sie müssen nicht alles klar zeigen, um etwas zu sagen. Manchmal ist es gerade das Vage, das uns berührt – wie der Nebel über einem Feld, in dem man nur ahnt, was dahinterliegt.
Maurice Merleau-Ponty – ein anderer Denker – hat das Leben als etwas beschrieben, das wir nie ganz in den Griff bekommen. Unsere Wahrnehmung, sagte er, ist immer in Bewegung.
Stell dir vor, du gehst durch einen Wald. Du siehst nicht alles auf einmal. Du nimmst Licht, Schatten, Farben, Geräusche wahr – aber nichts davon ist völlig klar oder getrennt. Alles fließt ineinander. Genau so ist unsere Welt. Nicht wie ein klarer Bauplan, sondern wie ein lebendiger Strom.
Und dann gibt es da noch Gernot Böhme. Er hat sich mit dem beschäftigt, was zwischen den Dingen liegt. Mit Stimmungen, mit dem Gefühl eines Raumes. Er sprach von Atmosphären – diesen schwer fassbaren, aber deutlich spürbaren Feldern, die zwischen uns und der Welt schwingen.
Denk an den Moment, wenn du einen Raum betrittst, in dem gerade jemand geweint hat. Oder gelacht. Ohne dass du etwas siehst, spürst du: Hier hängt etwas in der Luft. Diese Stimmung ist nicht sichtbar – aber sie ist da. Genau wie die Atmosphäre in einem Bild. Man kann sie nicht messen, aber man fühlt sie.
Vielleicht ist es genau das, was Unschärfe so stark macht: Sie lässt Raum. Sie zwingt uns nicht, etwas sofort zu verstehen. Sie vertraut darauf, dass wir spüren können, was da ist – auch ohne klare Linien.

Unschärfe gestalten – nicht dem Zufall überlassen
Unschärfe muss kein Zufall sein. Man kann sie bewusst einsetzen – wie einen Pinselstrich, der das Wesentliche andeutet, statt alles zu erklären.
Es beginnt mit der Blende. Wer sie weit öffnet, etwa auf f1.8 oder f2.8, holt Tiefe in die Unschärfe – lässt den Hintergrund weich verschwimmen oder macht den Vordergrund schemenhaft. Ich arbeite oft mit dem 50mm Objektiv bei offener Blende oder mit meinem 100mm Makro. Beide Objektive erlauben mir, ganz gezielt mit der Schärfe zu spielen – wie ein Fokus auf einen Gedanken, während alles andere langsam in den Hintergrund tritt.
Auch die Brennweite macht einen Unterschied: Ein Teleobjektiv verdichtet Räume. Es trennt das Motiv vom Rest der Welt – und lässt alles drumherum in ein sanftes Flirren tauchen.

Eine weitere Möglichkeit: lange Belichtungszeiten. Wer die Kamera mit einer langen Belichtungszeit und geschlossen Blende (z.B. f11) nicht stabilisiert – sondern bewusst leicht bewegt, erzeugt Unschärfen durch Bewegung. Diese Technik, bekannt als ICM (Intentional Camera Movement), kann zu Bildern führen, die mehr an Gemälde als an Fotografien erinnern. Man malt mit der Kamera. Und plötzlich hat das Bild keine Konturen mehr, sondern wirkt wie eine Erinnerung, ein Gefühl, eine Ahnung.

Ein ähnlicher künstlerischer Weg zeigt sich in den Arbeiten von Pep Ventosa.
Er fotografiert Bäume, Gebäude oder Menschen aus verschiedenen Perspektiven – und fügt sie zu einem einzigen, vibrierenden Bild zusammen. Schichten von Zeit und Blickwinkeln überlagern sich. Die Unschärfe ist hier nicht der Nebeneffekt eines Fehlers, sondern das bewusste Ergebnis einer Verdichtung. Ventosas Bilder wirken, als würden sie sich erinnern. Oder träumen.
Ich habe beiden Ansätzen in meinem Buch „Naturfotografie natürlich anders“ ein eigenes Kapitel gewidmet – weil darin ein Zugang steckt, der sich ganz vom „scharfen Sehen“ befreit.
Werbung





Naturfotografie natürlich anders
Das Buch „Naturfotografie natürlich anders“ zeigt: Die faszinierende Welt der Natur beginnt direkt vor deiner Haustür. Du musst keine weiten Reisen unternehmen, um beeindruckende Momente mit deiner Kamera einzufangen. Technische Perfektion steht hier nicht im Vordergrund, sondern es geht darum, deinem Bauchgefühl zu vertrauen und den besonderen Moment für dich einzufangen. Mit Geduld und Achtsamkeit lernst du, genau hinzuschauen und die kreativen Tipps von Jana Mänz zu nutzen, um berührende Aufnahmen zu machen. Mit ihren einfühlsamen Bildern und ihrer Erfahrung als Autorin zahlreicher Fachbücher vermittelt sie, dass Naturfotografie weit mehr ist als das Sammeln von Likes. Vielmehr sind die Bilder Ausdruck von Emotionen, Kreativität und künstlerischer Freiheit – Bilder für die Seele.
Und nicht zuletzt: die Distanz. Wie nah du deinem Motiv kommst, wie viel Abstand du lässt, verändert die Wirkung.
Unschärfe entsteht oft dort, wo sich Ebenen überlagern. Wo etwas im Weg steht. Oder wo der Hintergrund so weit entfernt ist, dass er sich nur noch in Licht und Farbe auflöst.
Unschärfe ist ein Werkzeug – aber eben kein rein technisches. Sie braucht Gefühl.
Manchmal genügt ein Zentimeter – und das Bild erzählt eine ganz andere Geschichte.
Und was bleibt, wenn alles verschwimmt?

Unschärfe ist mehr als ein technisches Mittel. Sie ist kein Fehler sondern eine feine Form der Wahrnehmung.
Manchmal erinnert sie an alte Porträts, bei denen ein Tüll vor dem Objektiv lag, um die Linien zu mildern. Damals wie heute geht es darum, etwas weicher zu machen – nicht aus Schwäche, sondern aus Gefühl. Wie Anne Henning schreibt: Unschärfe kann eine Stimmung tragen, wo Schärfe nur Sachlichkeit bietet. Sie öffnet Räume zwischen den Linien, lässt uns schauen – und zugleich träumen.
Katja Kemnitz ermutigt dazu, Unschärfe bewusst zu suchen. Nicht als Ausrede, sondern als Ausdrucksform. Bewegung, Offenblende, Langzeit: All das kann ein Bild in eine Geschichte verwandeln. In etwas, das vibriert. Das nicht fixiert ist, sondern in sich schwingt – wie eine Erinnerung, die nicht in Pixeln existiert, sondern in Gefühlen.
Und Marit Beer spricht vom Zufall als Verbündeten. Von Bildern, die aus einer Panne entstanden – aber genau deshalb so viel erzählen. Manchmal ist es nicht der Plan, der uns zu den starken Bildern führt, sondern der Moment, in dem wir loslassen. Und zulassen, dass sich etwas zeigt, dass wir nicht gesucht haben.
Vielleicht ist das das eigentliche Geschenk der Unschärfe: Dass sie uns erlaubt, Dinge offen zu lassen. Nicht alles zu wissen. Nicht alles sagen zu müssen. Sondern zu spüren.


Unterstütze meine Arbeit – damit sie frei bleiben kann
Auch in diesem Jahr arbeite ich mit Herz und Verstand daran, Inhalte zu schaffen, die berühren, inspirieren oder zum Nachdenken anregen. Doch hinter Texten, Bildern und Projekten stehen nicht nur Ideen, sondern auch ganz praktische Dinge wie Serverkosten, Technik, Pflege der Webseite – und Zeit, die ich investiere, um Qualität möglich zu machen. Wenn dir meine Arbeit etwas bedeutet, freue ich mich über deine Unterstützung – ganz unkompliziert per Spendenbutton. Denn ich möchte meine Inhalte weiterhin für alle zugänglich halten.
Ohne Paywall. Ohne Werbung. Einfach ehrlich.
Danke von Herzen. Jana
🕊️ Hinweis: Ich freue mich über persönliche, wertschätzende Kommentare. Mein Blog ist ein geschützter Raum für respektvollen Austausch – polemische, verletzende oder themenfremde Beiträge werden nicht freigeschaltet.
Mit dem Absenden erklärst du dich mit der DSGVO einverstanden.
Zuletzt kommentiert
Erik Schlicksbier
Ja, gerade in Zeiten der hyperrealen Schärfe sollten wir unbedingt mal wieder mehr Unschärfe wagen. Wäre dieser Blogpost etwas früher erschienen, wärst Du natürlich auch die perfekte Gästin für meine Podcast-Folge gewesen. Im Februar hatte ich mich mit dem Kollegen Tom Stöver darüber unterhalten: https://studio.kreativkommune.org/059-schaerfe-ist-ein-buergerliches-konzept-mit-tom-stoeven
Jana Mänz
Erik SchlicksbierLieber Erik, vielen Dank für deinen Kommentar – der Podcast klingt großartig, den höre ich mir auf jeden Fall an! Der Titel allein trifft schon einen Nerv. Ich finde es spannend, wie sich das Thema Schärfe nicht nur technisch, sondern auch gesellschaftlich aufladen lässt.
Und wer weiß – vielleicht ergibt sich ja zu einem anderen Thema eine gemeinsame Folge? Ich rede nicht nur gern über Unschärfe, sondern auch über alles, was dazwischenliegt.