Die herzerwärmende Wirkung von Han und Jeong
Die Emotionalen Konzepte von HAN 한 恨 und JEONG 정 情 in der (Natur)fotografie
Wer als Westeuropäer zum ersten Mal ein K-Drama sieht, wird erstaunt sein, vielleicht sogar eine Art Fremdscham empfinden oder einfach alles für übertrieben halten, so emotional sind viele dieser Geschichten. Dem ist aber nicht so. Wer sich intensiver mit K-Drama beschäftigt, wird feststellen, dass die koreanische Kultur von einer emotionalen Tiefe geprägt ist, was bei uns im Westen eher verpönnt ist. Als ich meine ersten K-Dramas gesehen habe, habe ich etwas empfunden, was ich bei deutschen oder amerikanischen Serien bisher wenig oder gar nicht gefühlt habe. Es hat mich sehr berührt und ich wollte wissen, was sich dahinter verbirgt und warum es so andersartig wirkt. Viele der Serien haben eine sehr starke emotionale Tiefe und es werden Themen angesprochen, die in unserer Kultur nicht angesprochen werden.
Das liegt daran, dass die koreanische Gesellschaft sehr stark von der Urreligion des Schamanismus geprägt ist. Dort spielen Emotionen und Ekstase eine große Rolle. Dies lässt sich nicht nur in K-Drama oder bei Konzerten von K-Pop-Bands beobachten, sondern auch, wenn Politiker oder Geistliche mit tränenüberströmten Gesichtern* in der Öffentlichkeit auftreten.
* Wer sich gerne japanische und koreanische Dramen anschaut, wird einen großen Unterschied feststellen. Nicht nur in der Sprache, sondern vor allem im Ausdruck von Gefühlen und Emotionen. Das betrifft vor allem das Weinen. In der japanischen Kultur gilt das Weinen als vereinfachte Kommunikationsform, die Kindern vorbehalten ist (ähnlich wie in unserer westlichen Welt). Darüber hinaus verbietet ein japanischer Volksbrauch das Weinen bei Beerdigungen, da man glaubte, dass Tränen am Körper des Verstorbenen ihn daran hindern würden, in seine spirituelle Heimat zurückzukehren. Auch heute noch ist das Weinen bei Beerdigungen für Japaner ein Tabu. Die koreanische Kultur hingegen hat einen anderen Ansatz. Die Koreaner interpretieren häufiges Weinen als positives Zeichen von „Mitgefühl“. Bei Beerdigungen und sogar bei Geburtstagen oder Hochzeiten sieht man viele weinende Menschen, wenn eine Schamanin während der Zeremonie zum Weinen aufruft (wir kennen das orientalische Konzept von Klageweibern).
Inhaltsverzeichnis
- Die Emotionalen Konzepte von HAN 한 恨 und JEONG 정 情 in der (Natur)fotografie
- Emotionale Konzepte verschiedener Nationen
- HAN: Die Tiefe des Schmerzes und der Trauer
- Wie kann man HAN ins Deutsche übersetzen?
- HAN in koreanischer Musik
- HAN & JEONG im koreanischen K-Drama
- JEONG: Die Verbundenheit durch Liebe und Zugehörigkeit
- Résumé
- HAN und JEONG in der Fotografie
Die Erzählungen berühren mich sehr. Auch wenn sie auf den ersten Blick oft trivial und oberflächlich erscheinen, sind sie es nicht. Im Gegenteil, sie erreichen oft eine Tiefe, die ich persönlich in unserer Gesellschaft nicht kenne. Sie enthalten viel Gesellschaftskritik, in der ich auch unsere Gesellschaft – so unterschiedlich sie auch sein mag – wiedererkenne. Und ich würde mir wünschen, dass wir ähnliche Themen kontrovers behandeln, seien es Themen wie in dem K-Drama Dr. John zur Sterbehilfe. Aber ich schweife ab.
Denn eigentlich wollte ich wissen, woher diese tiefe Emotionalität kommt. Es sind nicht nur die Bilder, sondern es ist ein unbestimmtes Gefühl, das sich auf mich überträgt, obwohl ich nicht aus diesem Kulturkreis stamme und es gleichzeitig aus meinem nicht kenne. So bin ich auf der Suche nach einer Erklärung auf die Begriffe gestoßen, die diese emotionale Tiefe besonders prägen: HAN und JEONG.
»HAN und JEONG sind wie YIN und YANG. Das eine existiert nicht ohne das andere. Nur wenn beide im Gleichgewicht ist, herrscht Harmonie.
JEONG meint eine unendliche, kaum zu beschreibende tiefe Verbundenheit, die über romantische Liebe hinaus geht. Diese Verbundenheit kennt keine Zeit und keinen Raum. JEONG kann zwischen Mensch und Natur, einem Gegenstand, einem Land oder einer Philosophie bestehen. JEONG braucht Zeit sich zu entwickeln und wer JEONG einmal in sich trägt, kann sich ihm nicht mehr entziehen.
HAN beschreibt eine tiefe Wut, Trauer, Zorn, unstillbare Sehnsucht und eine scheinbar nie enden wollende Wehmut.«
Kim Sou-Yen
Emotionale Konzepte verschiedener Nationen
In vielen Ländern gibt es etwas Besonderes, das dazu beiträgt, dass jeder Einzelne sich als Teil einer Nation fühlt. Diese Konzepte sind tief verwurzelt und drehen sich oft um die Emotionen, die für den menschlichen Zustand am wichtigsten sind: Trauer, Angst, Freude und natürlich Liebe. Obwohl sie universell sind, können sie für Menschen, deren Sprache kein entsprechendes Wort hat, schwer zu verstehen sein.
In Dänemark gibt es Hygge, ein schwer zu erklärendes Gefühl von Geborgenheit und Gemütlichkeit. In Israel gibt es Koev Halev, ein unbeschreibliches Gefühl, sich so intensiv mit dem Leiden eines anderen zu identifizieren, dass einem das Herz weh tut. In Portugal gibt es Saudade, die Bezeichnung für eine Art tiefe Sehnsucht oder Melancholie. Im Deutschen sind die Begriffe „Heimat“ und „Fernweh“, die für Ausländer schwer zu übersetzen sind. Und in Korea gibt es HAN und JEONG. Diese Begriffe verbinden das koreanische Volk mit stiller Kraft und pflegen eine gemeinsame Kultur und Verwandtschaft.
HAN: Die Tiefe des Schmerzes und der Trauer
Der Begriff HAN bezeichnet den ungelösten Groll oder emotionalen Schmerz, den eine Person empfindet. Es geht damit einher, dass man sich innerlich verzweifelt und ungerecht behandelt fühlt. Es ist wichtig, dass man sich mit seinen Gefühlen auseinandersetzt und sie verarbeitet, um langfristige negative Auswirkungen auf die eigene Gesundheit zu vermeiden. Die Ursachen für HAN können vielfältig sein, wie zum Beispiel Behinderung, der Tod eines Kindes oder missbräuchliche Behandlung durch eine Person in Machtposition. Der Zusammenhang zwischen all diesen Fällen besteht darin, dass die Betroffenen keine Abhilfe schaffen können. Ein Beispiel hierfür ist die Trennung von Familien, die mit der Teilung Koreas einherging. Die gewaltsame Trennung von geliebten Menschen ist ein großes Trauma.
»HAN ist ein Geisteszustand. Von Seele, wirklich. Eine Traurigkeit. Eine Traurigkeit, die so tief ist, dass keine Tränen fließen werden. Und doch gibt es noch Hoffnung.«
Auf meiner Recherche war ich überrascht zu erfahren, dass in Korea immer noch darüber gestritten wird, ob HAN ein typisch koreanisches Gefühl ist oder nicht. Einige behaupten, dass HAN Teil einer umfassenderen asiatischen Tradition ist, während andere sagen, dass es eine kolonialistische Erfindung der Japaner war. Unabhängig von seiner Herkunft und ob es als „echt“ oder „rein koreanisch“ angesehen wird oder nicht, ist HAN Teil der psychologischen Landschaft Koreas. Er beeinflusst das Verhalten der Menschen sowie die von ihnen produzierte Kunst. Ein typisch koreanischer Aspekt ist die Art und Weise, wie Emotionen gespeichert und geschätzt werden. In der koreanischen Kultur empfindet man oft eine tiefe Melancholie, die sich in der Moderne durch traurige Lieder, Filme und Fernsehdramen ausdrückt.
Wie kann man HAN ins Deutsche übersetzen?
Das ist ähnlich schwierig wie die japanischen Begriffe Yugen oder Wabi-Sabi zu erklären. Wenn man einen Koreaner nach HAN und JEONG fragt, wird jeder verstehen, was gemeint ist, aber es können unterschiedliche Antworten folgen. Es gibt keinen passenden deutschen Begriff für das koreanische Wort, da es zu viele Aspekte menschlicher Emotionen umfasst. Man muss dieses Gefühl ausführlicher beschreiben.
Laut einem koreanischen Wörterbuch beschreibt dieser Begriff eine Seele oder einen Geisteszustand, der voller Groll ist, unter Ungerechtigkeit leidet und verzweifelt oder traurig ist. Keine dieser Emotionen allein kann die Tiefe ausdrücken, die ‚HAN‘ besitzt. ‚HAN‘ ist zu passiv und in sich gekehrt, um wirklichen Groll zum Ausdruck zu bringen. Es ist zu intim, um als ‚Ungerechtigkeit‘ bezeichnet zu werden. ‚HAN‘ ist viel herzzerreißender als Kummer und enthält zu viel Bosheit und Tadel, um einfach als Kummer betrachtet zu werden. Der Begriff wird nicht verwendet, um einfache Emotionen zu beschreiben, die man im Alltag empfindet. Im Allgemeinen wird ‚HAN‘ verwendet, um intensive Emotionen auszudrücken, die sich über einen langen Zeitraum aufgebaut haben. Es steht oft im Zusammenhang mit Ereignissen wie dem Tod eines geliebten Menschen, unerwiderte Liebe, Verlassenheit oder Beschuldigung. Diese Emotionen können unwiderrufliche Narben in der Identität, Mentalität und im Leben eines Menschen hinterlassen. Wenn Emotionen über das persönliche Spektrum hinausgehen und sich zu einer allgemeinen Verunglimpfung der Gesellschaft oder der Tugend des Lebens selbst ausweiten, entsteht ‚HAN‘.
HAN in koreanischer Musik
In koreanischen Liedern, vor allem im modernen K-Pop, finden wir viele Beispiele für HAN. Wenn du koreanische K-Dramas auf Viki schaust, wirst du feststellen, dass vor allem sehr genau die Filmmusik übersetzt wird. Im Gegensatz zu westeuropäischen Filmen, bei denen die Filmmusik oft nur eine Untermalung ist, um eine Stimmung zu erzeugen, spielt sie in K-Dramen eine viel größere Rolle. Oft wird die Musik eingeblendet, anstatt dass die Protagonisten sprechen. Ich habe ein Beispiel herausgesucht, das meiner Meinung nach HAN widerspiegelt:
Kim Feel: Someday, The Boy aus dem K-Drama Itaewon Class
HAN & JEONG im koreanischen K-Drama
Es gibt viele K-Dramas, in denen das Konzept von HAN und JEONG besonders ausgeprägt ist. Aber es gibt ein K-Drama, welches besonders heraussticht: That Winter, the Wind Blows
Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf das Drama eingehen. Die Mischung aus Handlung, Musik, Winteraufnahmen und Aufnahmetechnik** machen dieses Drama zu etwas Besonderem.
** Regisseur Kim Kyu-tae verwendete viele Nahaufnahmen, um die Emotionen der Charaktere hervorzuheben und die kleinste Bewegung in ihren Gesichtern oder den Ausdruck in ihren Augen zu betonen. Diese visuelle Technik unterscheidet sich von den Standards bestehender koreanischer Dramen, die normalerweise mit Halbtotalen oder Totalen arbeiten. Das Team verwendete hochauflösende ALEXA Plus-Kameras, um solch detaillierte Aufnahmen zu machen, und der Lichtregisseur Park Hwan setzte doppelt so viele Lichtquellen ein wie in anderen Dramen.
JEONG: Die Verbundenheit durch Liebe und Zugehörigkeit
JEONG (ausgesprochen „chung“) ist einer der wichtigsten koreanischen Kulturwerte. Es beschreibt ein Gefühl der Loyalität und einer starken emotionalen Bindung zu Menschen und Orten. JEONG geht tiefer als Liebe und Freundschaft und wird mit der Zeit stärker. Es ist eine Philosophie, die auf der Essenz von Empathie, Verletzlichkeit und Freundlichkeit basiert und diese Werte weitergibt. JEONG ist eine magische Verbindung, die sich nach und nach vertieft. Es fördert das Verständnis füreinander und die Präsenz im Umgang mit Menschen. JEONG ist tief mit dem Glauben verbunden, dass das gesamte Universum und jeder Mensch miteinander verbunden ist. Dies gilt besonders für die koreanische Gesellschaft. Hier wird kulturell Teamarbeit und Teamentscheidungen als äußerst wichtig erachtet. Im Gegensatz dazu wird in den meisten westlichen Kulturen der Freiheit der Entscheidungen, der Rede und der Meinungsäußerung des Einzelnen mehr Bedeutung beigemessen.
Résumé
Warum beschäftigen mich die Konzepte von HAN und JEONG? Die Bilder aus koreanischen Dramen haben in mir eine starke Resonanz hervorgerufen. Ich fühle eine emotionale Tiefe, die ich aus unserem Kulturkreis nicht kenne und die ich in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen auch nicht erkennen kann. Die Bilder, die auf mich einwirkten, waren weder kitschig, sentimental noch peinlich, wie wir es teilweise aus sogenannten „Rosamunde Pilcher Filmen“ kennen.
Da Filme und Literatur zu meinen großen Inspirationen in der Fotografie zählen, habe ich darüber nachgedacht, wie ich diese emotionale Tiefe von HAN und JEONG in meine Fotografie übertragen kann. Denn ich denke, dass wir uns alle bemühen sollten, unsere Fotografien mit mehr Emotionen und Tiefe zu gestalten, um unsere Geschichten besser zu erzählen und unsere Betrachter zu berühren. Mir ist aufgefallen, dass es in unserer Kultur wenige Fotografien gibt, die das für mich widerspiegeln. Vielleicht ist es auch für uns schwierig, diese Tiefe in unseren Bildern zu erreichen.
HAN und JEONG in der Fotografie
Besonders aufgefallen ist mir jedoch die technische Umsetzung, mit der diese emotionalen Bilder erzeugt werden. Es wird teilweise mit starkem Gegenlicht gearbeitet, das Elemente nur fragmentarisch dargestellt werden. Es gibt starke Ausreißer, die in unserer Fotografie als völlig überbelichtet gelten würden, sowie starke chromatische Aberrationen, die wir als Fehler deklarieren und die unbedingt vermieden werden sollten. Hinzu kommen auch Spielereien mit weit geöffneter Blende und dem Tilt-Shift-Effekt. Mir ist aufgefallen, dass ich immer mehr unbewusst genau mit diesen Fehlern spiele und mich ausprobiere. Wenn man jedoch mit extremen Überbelichtungen und optischen Fehlern arbeitet, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass die Bilder ein Ausdruck von HAN und JEONG sind. Es macht mir aber viel Freude, die K-Dramas aus der Sicht der Fototechnik und der Emotionen zu analysieren und zu verstehen, wie sie auf den Betrachter wirken.
Zuletzt kommentiert
Simone
Liebe Jana,
Danke für diese tiefergehende Auseinandersetzungen mit den beiden Begriffen! Mir ist Emotionalität in der Fotografie sehr wichtig und daher werde ich mich noch näher mit der Thematik Han und Jeong beschäftigen. Mein Mann besitzt eine sehr große Filmsammlung. Darunter gibt es viele koreanische Spielfilm. Ich mag ihre Bildsprache sehr. intensiv und zugleich unaufgeregt.
Viele Grüße Simone
PS: Ich folge Dir schon sehr lange und freue mich jedesmal über Deine tiefgründigen Artikel und Deine Arbeiten!
Udo Büngener
Sehr interessanter, weil tiefgründiger Artikel, und Fotos, die mehr sind, als nur das banale „abfotografieren“, die Art der Fotografie, die ich liebe.